Der 13. Engel
umgebracht. Wie können Sie dann behaupten, dass Lucia uns nichts tun kann?«
»Bist du so schwer von Begriff?« Die Alte gab ein unwilliges Schnauben von sich. »Hat der Wasserspeier euch angegriffen? NEEEIN! Er hat sich ins Gerüst geworfen und dadurch alles zum Einsturz gebracht. Siehst du nun den Unterschied?«
»Nicht wirklich«, sagte Amy.
Die Alte verdrehte die Augen. »Es ist so, als stieße man einen Stein den Abhang hinunter, der unterwegs zu einer Lawine wird, die dann das Dorf am Fuße des Berges unter sich begräbt. Damit hat man das Dorf zerstört, ohne es direkt angegriffen zu haben. Und durch dieses Hintertürchen konnte Lucia euch mit dem Wasserspeier attackieren. Hast du es jetzt begriffen?«
Amy verzog säuerlich das Gesicht. Sie war ja nicht dumm. »Nur wozu macht sie das alles? Was hat sie davon, wenn sie Winterhall auf den Thron hilft?«
Die Alte verzog die faltigen Lippen zu einem grimmigen Lächeln. »Rache.«
»Rache?« Amy zog erstaunt die Brauen hoch. »Wofür?«
»Vor langer Zeit hat die Familie des Prinzen Lucia etwas angetan, das sie einfach nicht vergessen kann. Dafür will sie nun seinen Tod.«
»Sie ist wirklich wahnsinnig«, keuchte Amy. »Zuerst hat sie es bei uns versucht und nun will sie auch noch den Prinzen ermorden. Was hat seine Familie ihr denn so Schreckliches angetan, dass er das verdient haben soll?«
»Das solltest du nicht mich, sondern sie fragen.«
Amy starrte grübelnd zu Boden. Jetzt wussten sie wenigstens, worum es den Verschwörern ging. Insbesondere Lucia, die offensichtlich ihre Anführerin war. Vorausgesetzt, die Alte sagte ihnen die Wahrheit. Was Amy noch nicht verstand war, was die gestohlenen Engelsstatuen mit Lucias Racheplänen zu tun hatten. Gerade wollte sie danach fragen, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung gewahrte. Amy sah nach unten. Hinter dem Laternenpfahl, neben dem die Alte stand, schaute ein neugieriges Köpfchen mit weißem Fell und kleinen dreieckigen Ohren hervor. Eine Ratte. Die alte Frau, die Amys Blick gefolgt war, stöhnte auf. Flinker, als man es jemandem in ihrem Alter zugetraut hätte, stieß ihr linker Fuß auf das Tier herab. Das Splittern winziger Knochen war zu hören, als sie die Ratte mit einem einzigen Tritt zermalmte.
Amy stieß einen spitzen Schrei aus und wandte das Gesicht ab. Ihr war übel.
»Was für ein widerlich fettes Tier«, grummelte die Alte.
Amys Finger krallten sich in Finns Mantel. »Ich will weg von hier«, stöhnte sie mit von Ekel erfüllter Stimme. »Sofort!« Sie waren erst ein paar Schritte weit gekommen, als Amy sich übergeben musste. Mitten auf der Carrodsgasse und vor die Füße einer elegant gekleideten älteren Dame, die hysterisch zu kreischen begann.
Mr Greymore und Mr Black
Auf dem Rückweg zur Weberei brachte Amy kein Wort über die Lippen. Sie war viel zu enttäuscht und zu wütend. Cornelius hatte so nett gewirkt, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, und dann sollte er mit einer so widerlichen alten Vettel zusammenarbeiten? Auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte, es musste wohl so sein. Die Alte hatte einfach zu viel über die Verschwörung gewusst, als dass sie eine Lügnerin sein konnte. Aber was sie mit der Ratte gemacht hatte … Alleine der Gedanke daran brachte Amy wieder zum Würgen.
Am merkwürdigsten war, was sie über Lucia gesagt hatte. Ob sie ihr das glauben konnten? Besonders vertrauenserweckend hatte die Alte nicht gewirkt. Auf der anderen Seite hatte Lucia Amy aus dem Haus ihres Vaters entkommen lassen, ohne sie aufzuhalten. Auch in Gegenwart ihrer Tante hatte sie nicht Hand an sie gelegt. Lucia hatte ihr gedroht, aber das war auch schon alles gewesen. Es konnte also durchaus etwas Wahres daran sein. Trotzdem würde sie Lucia nicht unterschätzen, dafür saß der Schreck über die Begegnung mit dem Wasserspeier noch zu tief. Lucia war raffiniert und kaltblütig. Wenn sie ihnen wirklich etwas antun wollte, würde sie ganz bestimmt einen Weg finden. Und wenn nicht, würden Lord Winterhall oder Tante Hester es für sie übernehmen.
Nur wie sollte es jetzt weitergehen? Der Ausflug in die Carrodsgasse hatte ihnen nicht den Erfolg gebracht, den Amy sich erhofft hatte. Nach wie vor standen sie mit leeren Händen da. Kein Cornelius, keine Verbündeten. In diesem Fall war es wohl tatsächlich besser, sich in einem tiefen Loch zu verkriechen und den Kopf einzuziehen, bis alles vorüber war.
»Willst du dir etwa von einer verrückten alten Schachtel vorschreiben
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