Der 13. Engel
Allerdings ist es auch kein richtiger Schwachpunkt, schließlich hat sie genug Leute, die das genauso gut für sie erledigen können. Wie Mr Black und Mr Greymore.« Er schauderte.
»Zu irgendetwas muss dieses Schriftstück aber gut sein«, entgegnete Amy patzig. »Wäre es nicht wichtig, hätte mein Vater es nicht in seinem Notizbuch aufgeschrieben. Und es ist alles, was wir im Moment haben.«
Finn stand auf und klopfte sich Asche und Staub von der Hose. »Ist ja schon gut. Wenn es dir so viel bedeutet, gehen wir gleich morgen früh zu diesem Freund deines Vaters und fragen ihn danach.«
Amy nickte zufrieden. »Was haben wir schon zu verlieren?«
»Zeit«, sagte Finn ernst. »Aber die zerrinnt uns so oder so zwischen den Fingern.«
Sie bereiteten das Abendessen vor. Es gab Karotten, dazu eine angeschnittene Leberpastete und zum Nachtisch süßen Kürbis.
»Weißt du, es könnte auch einen anderen Grund geben, warum dein Vater hinter diesem alten Schriftstück her war«, sagte Finn, nachdem er den letzten Bissen der trockenen Pastete mit reichlich Wasser runtergespült hatte. »Und der hat nichts mit Lucia zu tun.«
Amy zog eine Braue hoch. »So, welchen denn?«
»Du sagtest vorhin, dass es darin um die Legende der Engel geht.«
Amy nickte. »Ich …« Sie verstummte und ließ langsam das Stück Kürbis sinken, in das sie gerade beißen wollte. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne etwas gesagt zu haben.
Finn grinste. »Sieht aus, als dächten wir beide dasselbe.«
Amy blinzelte ungläubig. Aber es war doch nur ein Märchen, oder nicht? Dreizehn Engel, die über das Wohl und das Glück der königlichen Familie wachten. Sie musste an ihren Traum denken, in dem die Engel sie vor Tante Hester, Lucia und Lord Winterhall gerettet hatten. Konnte ihr Vater herausgefunden haben, wie man sie rief?
Die Bibliothek des Klytus Burbridge
Einmal abgesehen von der Kathedrale und der Festung war die Bibliothek eines der ältesten Bauwerke der Stadt, auf das die Bürger zudem besonders stolz waren. Ihre Gründung wurde auf einen mittelalterlichen Gelehrten und seine große Leidenschaft für Bücher zurückgeführt. Zeit seines Lebens war er umhergereist, um seine Sammlung zu erweitern. Kein Weg war ihm zu weit gewesen, kein Preis zu hoch. Für die ältesten und kostbarsten Folianten hatte er die entferntesten Winkel der Welt aufgesucht; wenig erforschte Dschungelzivilisationen, entlegene Wüstenstädte und tropische Inselparadise. Als er im hohen Alter starb, gab es keinen Raum in seinem weitläufigen Haus, der nicht bis zur Decke mit Büchern gefüllt gewesen wäre. Zur Verzweiflung seiner Erben, in deren Augen seine Leidenschaft schon immer pure Verschwendung gewesen war, hatte der Gelehrte in seinem Testament verfügt, dass sein Haus zur ersten öffentlichen Bibliothek der Stadt werden sollte.
Über die Jahrhunderte hinweg war die Zahl der Bücher stetig angewachsen, sodass die ursprüngliche Bibliothek immer wieder vergrößert werden musste. Es wurde angebaut und aufgestockt, bis sie zu einem imposanten Bauwerk geworden war. Inzwischen zierten antike Marmorsäulen den Haupteingang und über der großen Eingangshalle wölbte sich eine Kuppel aus Glas und Eisen, durch die die Besucher den Himmel sehen konnten.
Mit einem ehrfürchtigen Ausdruck auf dem Gesicht folgte Finn Amy über lange Treppen und durch weite Flure, vorbei an unzähligen, weit offenstehenden Türen, hinter denen sich Hallen mit meterhohen Bücherregalen verbargen. Männer und Frauen jeden Alters standen davor, ließen ihre Finger suchend über die Buchrücken wandern oder hatten sich in die bereitgestellten Leseecken zurückgezogen, um ganz und gar in die Bücher einzutauchen. Manchmal weinend, manchmal lachend oder gar Fingernägel kauend, vergaßen sie völlig die Welt um sich herum.
»Und das alles gehört dem Freund deines Vaters?«, fragte Finn zutiefst beeindruckt.
Amy lachte. »Oh nein, Mr Burbridge hat nur ein Auge darauf.« Einen Moment später klopfte sie an eine Tür mit einem Messingschild, auf dem stand:
Klytus Burbridge
Oberster Bibliothekar
NICHT STÖREN!
Schlurfende Schritte näherten sich der Tür von der anderen Seite her. Mit einem Ruck wurde sie geöffnet und ein kleiner, maulwurfartiger Mann mit Glatze und einer Brille, die seine Augen um das Doppelte vergrößerte, schob den Kopf heraus. Halb verärgert, halb misstrauisch starrte er auf die beiden Kinder herab. »Was wagt ihr mich zu stören? Könnt ihr nicht
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