Der 13. Engel
Problem, mit dem sie tagtäglich zu kämpfen hatten. »Das sieht man doch auf den ersten Blick. Ich bin der Besseraussehende von uns beiden.«
Nun lachten die zwei, wirkten jedoch keinen Moment lang amüsiert, sondern fixierten Amy und Finn unablässig mit Blicken, die an wilde, ausgehungerte Raubtiere erinnerten.
»Lucia war überhaupt nicht darüber erfreut, dass wir euch das letzte Mal haben entkommen lassen.« Mr Greymore schnaubte.
»Nein, überhaupt nicht«, stimmte Mr Black zu und zischelte wie eine Schlange.
Amy stemmte die Hände in die Seiten. »Das macht mir keine Angst!«
»Ach?« Mr Greymore wölbte eine Braue. »Das sollte es aber.« Plötzlich glühten seine Augen in einem tiefen Rot, als loderten die Flammen der Hölle darin.
Amy schrie erschrocken auf.
»Wer oder was sind Sie?«, hauchte Finn mit kaum hörbarer Stimme.
Mr Greymore lächelte, ging jedoch nicht auf die Frage ein.
»Ts, ts, ts«, sagte Mr Black und schüttelte den Kopf. »Ihr hättet Mr Greymore und mich nicht verärgern sollen.« In seiner rechten Hand glänzte das kalte Metall seines Messers, ohne dass Amy gesehen hatte, wie er es hervorgeholt hatte. »Schnell oder langsam? In Scheiben oder in Würfeln? Wenig oder viel Blut? Was meinst du, Mr Greymore?«
»Wenn ich entscheiden dürfte, würde ich sie wie kleine Kätzchen im Fluss ertränken.« Er seufzte und bedachte die beiden mit einem verträumten Blick. »Dummerweise will Lucia erst mit ihnen reden.«
»Wir könnten sagen, dass es ein Unfall war, dass sie mir direkt ins Messer gelaufen sind.«
»Eine vergnügliche Vorstellung, Mr Black. Ja, wirklich. Nur leider geht es nicht.« Ruckartig wandte er das Gesicht Amy und Finn zu. »Nun, Kinder, werdet ihr dieses Mal schön artig mit uns kommen? Oder muss Mr Black erst anschaulich demonstrieren, wovon er so gerne schwärmt?«
Wäre Amy nicht so verzweifelt gewesen, sie wäre in lautes Gelächter ausgebrochen. Mr Greymore und Mr Black verstanden es zwar vorzüglich, einem eine Höllenangst einzujagen, schienen aber nicht zu begreifen, dass das herzlich wenig dazu beitrug, dass man freiwillig mit ihnen gehen wollte.
»Erinnerst du dich an deine Tante und die Spinnen?«, fragte Finn aus dem Mundwinkel.
Amy krauste die Stirn. Warum fragte er ausgerechnet jetzt danach, wo sie weiß Gott andere Sorgen hatten? Dann ging ihr jedoch ein Licht auf. Finn hatte etwas vor.
»Spinnen?«, wiederholte Mr Greymore verständnislos. »Ich glaube, unsere jungen Freunde haben vor lauter Angst den Verstand verloren. Was meinst du, Mr Black?«
In dem Moment passierte es. Plötzlich war aufgeregtes Stimmengemurmel in der Luft, das durch die Gasse zu ihnen herüberschwebte. Als es näherkam, waren Amys und Finns Namen zu verstehen, die aus Dutzenden von Kehlen erschollen. Mr Greymore und Mr Black wirbelten herum. »Da ist niemand«, brummte Mr Greymore gereizt.
Die Schlangen entstanden aus dem Nichts heraus. Rotbraun gemusterte Tiere, doppelt so dick wie ein Schiffstau. Sie wanden sich blitzschnell um Mr Blacks und Mr Greymores Oberkörper und pressten ihre Arme so fest an die Seiten, dass Mr Black sein Messer entglitt. Klimpernd fiel es auf das Straßenpflaster. »Was habt ihr getan?«, kreischte er völlig außer sich. »Wenn ich euch zu fassen kriege, bring ich euch um!«
»Nehmt sie weg«, bellte Mr Greymore, dem vor Zorn die Augen aus den Höhlen zu quellen drohten.
Amy klappte der Unterkiefer herunter.
»Komm schon!« Finn schob seine Hand in die von Amy und lief los.
»Warst du das?«, fragte sie ungläubig, während sie durch die enge Gasse flohen. »Die Stimmen und die Schlangen?«
»Ja«, sagte Finn stolz, dann wurde er wieder ernst. »Allerdings werden die Schlangen sie nicht lange aufhalten.«
»Es sind wieder nur Trugbilder, nicht wahr?«
Er seufzte betrübt.
Sie erreichten das Ende der Gasse und stießen auf eine breite Straße, auf der eine Vielzahl von Menschen unterwegs war – Mägde mit ihren Herrinnen, Knechte, die Körbe mit Brennholz oder Kohle trugen, Tagelöhner, die gerade von ihrer Arbeit kamen oder auf dem Weg dorthin waren. Allesamt standen sie da, als hätte ein Zauber sie erstarren lassen, während sie mit teils verängstigten, teils schaulustigen Gesichtern in die Richtung deuteten, aus der Amy und Finn gerade kamen.
Schnaufend warf Amy einen Blick über die Schulter. Keine Spur von Mr Greymore und Mr Black. Dafür erfüllte sie der Anblick der Bibliothek mit tiefem Kummer. Meterhohe Flammen schlugen
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