Der 13. Engel
aus den Fenstern der Haupt- und Nebengebäude und aus mehreren Stellen des Daches. Sie presste betroffen die Lippen aufeinander. Hoffentlich hatte der arme Mr Burbridge es rechtzeitig aus dieser Feuerhölle herausgeschafft.
Auf der Flucht zu sein, war schon zu einem Dauerzustand für Amy geworden. Selbst ihre Füße hatten sich inzwischen an diese Strapazen gewöhnt. Nur das Seitenstechen machte ihr nach wie vor zu schaffen.
Sie überließ sich ganz Finns Führung. Schon zuvor hatte sich gezeigt, dass er sich viel besser in den Gassen und Straßen der Stadt auskannte. Ganz sicher würde er sie auf dem schnellsten Weg zurück zu ihrem Versteck bringen. Plötzlich zerrte Finn sie nach links, um einem mit Apfelkisten und Getreidesäcken beladenen Marktkarren auszuweichen. Der Richtungswechsel kam so unerwartet, dass Amy ins Stolpern geriet und einen kleinen Mann mit einem viel zu großen Kopf anrempelte. Die Wucht des Zusammenpralls entriss sie Finns Griff.
Amy taumelte zurück und knallte mit dem Hintern auf das harte Pflaster. Sie stöhnte leise, während der kleine Mann kreischte, als hätte ihn jemand mit einem glühenden Schürhaken verbrannt. Amy blickte verdattert auf und beobachtete, wie er mit einem großen weißen Taschentuch immer wieder über die Stelle seines Jacketts rieb, an der sie ihn berührt hatte.
Plötzlich hielt sie den Atem an. Das war ja … »Mr Fraud!«
»Alles in Ordnung?«, fragte Finn atemlos und half Amy wieder auf die Beine.
»Amy?« Mr Frauds Lider klappten mehrmals auf und zu, als könnte er nicht glauben, wen er vor sich sah. »Was tust du denn hier? Deine Tante hat mir gesagt, du wärst für einige Monate zu Verwandten aufs Land gefahren.«
Amy stieß empört Luft durch die Nase aus. »Sie ist eine gemeine Lügnerin!« Und Schlimmeres, fügte sie in Gedanken hinzu, weil sie es für besser hielt, in der Öffentlichkeit nicht laut über die Verschwörung zu sprechen.
»Jemanden der Lüge zu bezichtigen, ist eine schwere Anschuldigung«, erklärte Mr Fraud streng und steckte sein Taschentuch weg.
»Nicht, wenn es die Wahrheit ist«, entgegnete Amy.
Mr Fraud musterte sie einen Moment lang stumm mit seinem bohrenden Blick, der Amy stets erschaudern ließ, dann nickte er. »Du und dein Freund, ihr seht so blass und verstört aus, als sei der Teufel persönlich hinter euch her. Würdet ihr mir das bitte erklären?«
»Es ist besser, wenn Sie nichts darüber wissen«, entgegnete Amy, die ihn nicht in die gleiche Gefahr wie Mr Burbridge bringen wollte.
»Nun gut, es ist deine Entscheidung.« Mr Fraud klang gekränkt. »Ich wollte nur helfen.«
Vielleicht konnte er das ja wirklich. Er war ihr zwar nach wie vor nicht geheuer, allerdings war im Moment nichts wichtiger, als dass sie von der Straße runterkamen. »Also gut, ich werde es Ihnen erzählen, aber nicht hier«, ging Amy zum Schein auf sein Angebot ein. »In dieser Straße ist einfach zu viel los.« Sie sah kurz zurück. Mr Greymore und Mr Black schienen aufgegeben zu haben. Vielleicht waren die beiden am Ende der Gasse auch nur in die falsche Richtung abgebogen. Dann würde es sicherlich nicht mehr lange dauern, bis sie ihren Fehler erkannten und hier auftauchen würden.
»Das liegt daran, dass heute Markttag ist«, erklärte Mr Fraud, dessen Augen inzwischen vor Neugier funkelten. »Und ich wollte eigentlich … Ach, das spielt jetzt keine Rolle mehr. Mein Haus ist ganz in der Nähe. Dort können wir uns in Ruhe unterhalten.«
Genau darauf hatte Amy gehofft. Sie würden erst einmal bei Mr Fraud unterschlüpfen, um anschließend – sobald es dunkel und damit sicherer für sie geworden war – zu ihrem Versteck zurückzuschleichen.
Finn zog sie am Ärmel. »Bist du sicher, dass wir ihm trauen können?«, raunte er ihr zu.
»Wem können wir überhaupt trauen?«, erwiderte sie. »Aber keine Angst, ich habe nicht vor, ihm die Wahrheit zu erzählen. Nur so viel, wie nötig ist.«
Mr Fraud wohnte in einem winzigen windschiefen Haus, das geduckt zwischen einer Bäckerei und einer Schneiderei kauerte. Durch einen dunklen Flur gelangten sie in ein kleines Wohnzimmer, das ein wahres Uhrenmuseum war. Überall standen sie, kleine und große Uhren. Einige bunt bemalt und mit riesigen Ziffern, andere aus glänzendem Messing oder schlichtem Holz. Die größte, eine auf Hochglanz polierte Standuhr, hatte ein Pendel, das munter hin- und herschwang und eine leicht hypnotische Wirkung hatte, wenn man zu lange hinsah.
»Zeit«, murmelte
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