Der 13. Engel
sodass er beide Kinder im Auge hatte. »Glaubt mir, wenn ich euch sage, dass ich in ebenso großer Gefahr schwebe wie ihr. Und ich kann verstehen, dass ihr Angst habt. Mir geht es nicht anders.« Ein Lächeln huschte über seine Lippen, als Amy ein überraschtes Gesicht zog. »Meine letzte Auseinandersetzung mit Lucia habe ich nur überlebt, weil ich geflohen bin.«
»Wenn du gerade versuchst, uns Mut zu machen, ist das genau die falsche Ansprache«, beschwerte sich Finn.
»Für Momente wie diese gibt es keine richtigen Worte.« Cornelius schien ein wenig in sich zusammenzusinken. Er sah nun wieder trauriger und auch älter aus. »Würde ich euch etwas vormachen, würdet ihr es sofort durchschauen, und das wäre noch schlimmer. Ihr würdet denken, ich mache das nur, weil ich überzeugt davon bin, dass wir nicht gewinnen können. Aber das stimmt nicht! Es wird schwierig, ja, ganz sicher sogar. Und tollkühn ist unser Plan obendrein, trotzdem kann er gelingen.«
Amy und Finn ließen sich ins Sofa zurücksinken.
»Lasst die Köpfe nicht hängen.« Plötzlich entschlüpfte ein geisterhafter Schleier Cornelius’ Fingerspitzen. Goldener Flitter tanzte darin, während das blassblaue Wölkchen zur Decke schwebte, wo es in einem farbenprächtigen Funkenregen zerbarst. Amy musste gegen ihren Willen lächeln und plötzlich stieg ihr der Geruch von Pfefferminz in die Nase. Sogleich musste sie an die kleine gemütliche Küche daheim denken. Weitere Erinnerungen wurden in ihr wach. An heiße Schokolade und ein wohlig warmes Feuer, das im Ofen prasselte, während ihr Vater von einem seiner spannenden Abenteuer erzählte.
»He, ich rieche Rosen und Flieder und … Mondfeuer!«, rief Finn mit leuchtenden Augen.
Cornelius lächelte. »Wenn es euch schlecht geht, versucht einfach, an etwas Schönes zu denken. Mir hilft das immer.«
»Hast du uns etwa verzaubert?«, platzte Finn heraus.
»Ganz und gar nicht«, sagte Cornelius. »Wenn man etwas Schönes sieht, kommen die schönen Erinnerungen von ganz alleine. Haltet an ihnen fest und kämpft so gegen die Trübsal in euren Herzen an.« Sein Gesicht wurde wieder ernst. »Hört mir jetzt gut zu: Bei dieser Sache dürft ihr euch nicht auf mich verlassen. Ich bin nur eine winzige Figur, gefangen in einem Spiel, das schon viel zu lange dauert. Auf euch kommt es an! Darauf, dass ihr an euch selber glaubt. Verstanden?«
»So viel ist von uns abhängig«, jammerte Finn. »Es sind ja nicht nur unsere eigenen Leben. Da ist ein ganzes Königreich …«
»Da draußen ist eine ganze Welt«, verbesserte Cornelius ihn. »Alles, was man tut, wirkt auf sie. Freundschaften, die man schließt, eine kleine Freude, die man jemand anderem macht, aber auch ein böses Wort … Meistens denkt man nur nicht darüber nach. Also macht euch die Last, die ohnehin auf euren Schultern liegt, nicht noch unnötig schwerer.« Er nickte ihnen auffordernd zu. »Was ist jetzt, seid ihr bereit?«
»Einen Augenblick noch.« Finn wickelte den Schal von seinem linken Arm und streckte diesen vorsichtig. Er verzog ein wenig das Gesicht, dann sagte er: »So ist es besser.«
Sie warfen sich ihre Mäntel über und verließen die Weberei.
In den vergangenen Tagen waren alle Straßen der Stadt festlich geschmückt worden. Bunte Wimpel hingen von den Straßenlaternen und viele hatten Fahnen an ihre Häuser gehängt, die das königliche Wappen zeigten: einen schwarzen Stern, umringt von dreizehn weißen. Selbst die Bäume trugen Bänder, die aufgeregt im Wind flatterten, der trotz des strahlenden Sonnenscheins durch die Straßen und Gassen fegte.
Auf ihrem Weg zur Kathedrale begegneten Amy, Finn und Cornelius, der jetzt einen vornehmen schwarzen Anzug und Zylinder trug, mehreren Festzügen, die von fröhlich musizierenden Kapellen angeführt wurden. Viele Menschen waren unterwegs, mehr als sonst. Vermutlich waren sie zur Krönungsfeier aus den umliegenden Ländereien angereist. Sie waren gut gelaunt und trugen ihre beste Feiertagstracht. Und überall liefen lachende und schreiende Kinder herum, schwenkten kleine Fähnchen und waren dabei so aufgeregt, als wäre Weihnachten.
Die Kathedrale, deren Türme man schon von Weitem sehen konnte, zählte zu den imposantesten Bauwerken der Stadt. Nicht nur wegen ihrer immensen Größe. Sie strahlte eine solche Würde und Erhabenheit aus, dass man sich in ihrer Nähe wie ein unbedeutender Winzling vorkam. Selbst die umliegenden Häuser wirkten geduckt, als wagten sie nicht, sich
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