Der 21. Juli
überbrüllte das Zischen im Führerstand: »Wir besuchen jetzt meinen Bruder, da kannst du schlafen. Und morgen sehen wir weiter.«
Werdin trabte mit seinem Gepäck dem Lokführer hinterher. Sie gingen durch Sträßchen, gesäumt von einstöckigen Klinkerbauten, in deren vorhanglose Zimmer jedermann hineinschauen konnte. Vor einem dieser Reihenhäuser in einer dieser kleinen Straßen zog der Lokführer einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und öffnete eine Tür. An der Tür stand kein Name, nur die Hausnummer. Werdin wusste nicht, wie der Lokführer hieß, und er hatte ihm seinen Namen auch nicht genannt. Ein Rest von Misstrauen.
In der Küche stand eine kleine blonde Frau am Herd, im Arm hielt sie einen Säugling, von dem Werdin nur einen spärlich behaarten Hinterkopf erkannte. Die Frau drehte sich nicht um, sie rührte in einem Topf, es roch nach Erbsensuppe. »Ich habe einen Gast mitgebracht«, sagte der Lokführer.
Die Frau drehte sich um, musterte Werdin streng. »Gut«, sagte sie.
»Ich bringe ihn nachher zu Willem«, sagte der Lokführer.
Die Frau nickte, sie hatte ihr Gesicht wieder dem Topf zugewandt.
Der Lokführer zeigte Werdin das Badezimmer. Werdin wusch sich den Ruß vom Leib und zog sich um. Unter dem
Jackett trug er das Schulterhalfter mit der Walther. Nachdem auch der Lokführer sich gewaschen hatte, aßen sie in der Küche. Die Frau des Lokführers sagte kein Wort, sie schaute Werdin mehrfach unfreundlich an. Es war klar, sie hatte Angst. Werdin bewunderte den Mut des Manns und seiner Frau, die ihren Kopf riskierten für einen Fremden, von dem sie nicht einmal den Namen kannten.
Nach dem Essen führte der Lokführer Werdin zu einem Gartenhäuschen und bedeutete ihm, ebenfalls ein Fahrrad zu nehmen. Der Lokführer radelte vorneweg, Werdin hinterher, den Koffer auf den Rücken geschnallt. Sie fuhren durch winklige Gassen, dann ein Stück an der Maas entlang. Nach einer Weile erreichten sie eine Art Gehöft, drei kleine Häuser, eine Scheune, ein Schuppen und eine Hundehütte. An einer Kette eine groß gewachsene schwarze Promenadenmischung. Der Hund kläffte kurz, als sie eintrafen, dann schwieg er und verzog sich in die Hütte.
Werdin folgte dem Lokführer in eines der kleinen Häuser. Der Putz zeigte Löcher, an der Haustür blätterte die Farbe ab. Die Diele war staubig, der Boden voller Schmutzschlieren. In der Küche saß ein langer, dürrer Mann und las etwas. Er hob sein knochiges Gesicht und schaute Werdin an.
»Das ist ein Genosse, Willem«, sagte der Lokführer. »Jedenfalls so eine Art. Glaubt noch an Väterchen Josef. Aber als Heizer macht er sich gut.« Der Lokführer kicherte wie ein albernes Mädchen.
»Ein Moskowiter«, sagte Willem mit heiserer, fast tonloser Stimme und betrachtete Werdin streng. Werdin erkannte Schmutzstreifen in den Hautfalten am Hals. »Na ja, wir sind ja nicht so«, sagte Willem.
»Wie willst du heißen?«
»Karl«, sagte Werdin.
»Da hast du dir ja den schönsten deutschen Namen ausgesucht«, sagte Willem. »Ich heiße Willem, und das wirklich. Mein Bruder liebt diese Versteckspielchen, ich nicht. Bisher sitzt der Kopf noch auf dem Hals.« Er streckte seinen Hals, Schmutzkrümel fielen auf und in sein schmuddeliges graues Hemd.
»Er will nach Deutschland«, sagte der Lokführer. »In Holland wird er gesucht.«
»Das ist ja schön«, erwiderte Willem. Er sagte das in einem Tonfall, in dem man jemandem erklärt, dass man Blumenkohl kaufen geht. Nichts schien Willem zu veranlassen, seine Stimme zu heben oder sonst wie Aufregung zu zeigen. Haarsträhnen klebten auf seinem Totenschädel. »Und jetzt willst du, dass ich den Josefgläubigen nach Deutschland bringe, damit unsere Freunde von der SS ihm in Plötzensee den Kopf abschlagen.«
»Ja«, sagte der Lokführer.
Willem zog seine Mundwinkel wenige Millimeter nach außen. »Ist doch mal eine Abwechslung.« Er wandte sich an Werdin. »Wohin soll es gehen?«
»Nach Deutschland«, sagte Werdin, er wollte nicht mehr sagen als nötig.
»Also nach Berlin«, sagte Willem. »Da wollen sie alle hin.« Er schaute seinen Bruder an. »Weißt du noch, den Letzten, den ich übergesetzt habe, haben sie schon in Mönchengladbach erwischt. Der wollte auch nach Berlin. Stattdessen ...« Willem fuhr sich mit dem Zeigefinger quer über den Kehlkopf. »Zum Teufel, was bin ich unhöflich.« Er bot Werdin einen Küchenstuhl an. Willem ging zum Spülbecken, nahm ein Glas aus einem Haufen schmutzigen Geschirrs, hielt
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