Der 21. Juli
nachdem sie verletzt ans Rheinufer getrieben worden war. Die Narben des Durchschusses unter der Schulter erinnerten sie jeden Morgen und jeden Abend daran, in wessen Schuld sie stand. Ihre Eltern hatten sich an Zacher gewandt, als die Gestapo kam, um das Haus in Biesdorf zu durchsuchen. Und Zacher handelte. Er erzählte ihr nie, wie er es getan hatte, aber sie konnte es sich vorstellen. Damals fühlte Zacher sich als Held, als unbesiegbar. Wer konnte ihm einen Wunsch abschlagen? Unter den Offizieren der Luftwaffe lief das Gerücht um, Zacher sei fast mit Gewalt beim Reichsführer-SS eingedrungen. Er habe gebeten, gedroht und gewarnt, seinen Status ausgenutzt und Himmler schließlich herumgekriegt. Bedingung war, dass niemand etwas von Irmas Fluchtversuch erfahren durfte. Und Irma musste sich bereit erklären, dem SD zu melden, falls Werdin oder ein Mittelsmann von ihm von sich hören ließ.
Kurz nach ihrer Befreiung hatten sie geheiratet. Er wusste, es hatte einen anderen gegeben, und manchmal platzte die Eifersucht aus ihm heraus. Aber Werdin war weit weg. Irma stellte sich vor, Zacher wartete darauf, dass ihre Erinnerung an Werdin blass wurde und schließlich erlosch.
Aber sie veränderte sich nur. Sie erkannte in ihrem Sohn den Geliebten jeden Tag aufs Neue. Er war ihm zu ähnlich, um Werdin zu vergessen. Mit sechs oder sieben Jahren erschien das gleiche herausfordernde Lachen in seinem Gesicht, das sie an Werdin so geliebt hatte.
Zacher und Irma hielten sich an die Absprachen mit Himmler. Die eine, Verschweigen der Flucht, war leicht zu erfüllen. Die andere, Meldung, wenn Werdin von sich hören ließ, betrachtete Irma als abwegig. Bis vor zwei Jahren ein Obergruppenführer Schellenberg bei ihr aufgetaucht war, während Zacher im Luftfahrtministerium einen Termin wahrnahm. Nach dem ersten Schreck begriff Irma, Schellenberg war ein freundlicher Mann.
Er brachte Grüße vom Reichsführer, fragte sie, ob sie Hilfe brauche, es gebe doch sicher einige Annehmlichkeiten, mit denen der Reichsführer sie und ihren Mann erfreuen könne. Als Irma sagen wollte, er sei gewiss nicht gekommen, um ihr Grüße von Himmler auszurichten, wurde Schellenberg plötzlich ernst, ja, fast traurig.
»Ich muss Ihnen eine schlechte Nachricht überbringen. Herr Werdin ist gestorben.«
Irma schaute Schellenberg erstaunt an.
»Wissen Sie, ich kann verstehen, dass Sie Herrn Werdin in einem anderen Licht gesehen haben als wir. Wir waren, ich gebe es zu, ein wenig rachsüchtig. Nur, man darf einer liebenden Frau nicht mit staatspolitischer Räson kommen. Ich habe das damals meinem Reichsführer erklärt, und er hat mir nach einigem Drängen zugestimmt. Glauben Sie mir, ich empfinde keinerlei Befriedigung bei meiner Mission, Ihnen diese Botschaft zu überbringen. Ich habe den Mann geschätzt, so sehr, dass ich heute noch erschüttert bin über seinen Verrat.«
Irma fühlte eine erstickende Beklemmung. Sie hatte geglaubt, ihre Gefühle geordnet und mit ihrer Pflicht aufgewogen zu haben. Dankbarkeit für Zacher, Verantwortung für Josef. Die Nachricht von Werdins Tod machte sie schwindlig, das Blut stürzte aus ihrem Kopf. Eine Zeit lang konnte sie nicht sprechen. Erst war die Atmung gelähmt, dann schnappte sie nach Luft. Sie sah Schellenberg in dem Sessel sitzen, in dem am Abend Zacher trank.
»Wie?«, brachte sie heraus. »Wie ist er gestorben?«
»Ein Autounfall«, erwiderte Schellenberg mit sanfter Stimme. »Er war sofort tot, hat nicht gelitten.« Er ging in die Küche und brachte ihr ein Glas Wasser. Sie trank. Nachdem sie das Glas abgesetzt hatte, sagte er mit seiner leisen Stimme: »Leider muss ich Sie um einen Gefallen bitten. Ich möchte, dass Sie Herrn Werdin einen Brief schreiben.«
»Aber er ist doch tot! Warum quälen Sie mich?«, schrie sie ihn an.
Er erschrak und fuhr zurück. Aber keinen Augenblick schwand die Freundlichkeit aus seinem Gesicht. »Es ist eine Geheimdienstoperation. Wenn die CIA, der amerikanische Nachrichtendienst, Ihren Brief an Werdin liest, werden die vielleicht glauben, es wäre bei Ihnen etwas zu holen. Die wissen, wer Frau von Zacher ist. Und vor allem wissen sie, wer Generalmajor von Zacher ist. Wir möchten gerne wissen, was die Amerikaner bei uns ausspionieren wollen. Wenn wir das wissen, wissen wir, was sie nicht wissen.«
Irma schüttelte den Kopf. »Das ist doch idiotisch.«
»Mag sein«, erwiderte Schellenberg nachdenklich. »Auch ich zweifle manchmal an meinem Beruf. Wahrscheinlich geht
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