Der 21. Juli
es kurz unter den Wasserhahn und stellte es vor Werdin auf den Tisch.
»Auch eins?«, fragte er seinen Bruder. Der schüttelte den Kopf.
»Das ist Apfelschnaps, selbst gebrannt«, sagte Willem. »Trink zwei, drei Gläser, dann kannst du etwas schlafen.« Er zeigte auf eine schmutzige Feldliege, die an der Wand stand. »Morgen früh um zwei geht’s rüber zu den Ariern.«
Willem sprach nicht viel. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen und trank beängstigende Mengen von Schnaps, aber es schien ihm nichts auszumachen. Aus dem, was Willem sagte, schloss Werdin, dass er ein Schmuggler war. Die Niederlande pflegten Handelsbeziehungen zu fast allen Staaten der Welt, auch zu solchen, mit denen Deutschland offiziell immer noch im Kriegszustand war. Die Deutschen hinderten die von ihnen abhängigen Regierungen nicht daran, schließlich profitierten auch sie von den Gütern, die Holland, Belgien oder Frankreich einführten. Es gab in Holland viele Dinge reichlich, die in Deutschland knapp waren, Zigaretten und Kaffee etwa. Wenn in einem Land fehlt, was beim Nachbarn zu kaufen ist, entsteht Schmuggel. Glaubte man Willem, dann waren die Deutschen nicht sonderlich scharf hinter Schmugglern her. Werdin würde es in wenigen Stunden erleben.
Etwas rüttelte an seiner Schulter. Als er die Augen aufschlug, sah er in Willems hageres Gesicht. »Es geht los«, sagte er. Es fehlten ihm wenigstens die Hälfte seiner Zähne. Geblieben waren braune Stummel. Werdin spürte einen Anflug von Übelkeit, als ihn Willems Atem traf. Er rieb sich die Augen und schaute auf die Armbanduhr. Es war kurz vor zwei. Willem hatte schon etwas gekocht, das Kaffee sein sollte. Die schwarze Brühe schmeckte bitter, aber sie machte Werdin wach.
Willem deutete auf zwei Kartoffelsäcke, die an der Wand lehnten.
»Einen davon trägst du«, sagte er. Er warf sich einen Sack auf den Rücken, Werdin tat es ihm nach. Der Sack war voll, aber nicht schwer.
»Was ist da drin?«
»Zigaretten«, sagte Willem, »Chesterfield und Lucky Strike.«
Sie gingen weg von der Maas in Richtung Osten. Bald erreichten sie einen Wald. Ohne einmal zu zögern, fand Willem im Dunkeln fast geräuschlos seinen Weg. Werdin mühte sich, ihm zu folgen. Sie gingen immer tiefer in den Wald hinein. Dann erkannte Werdin schemenhaft eine Lichtung. In der Mitte der Lichtung setzte Willem seinen Sack ab und zündete sich eine Zigarette an. Er zog zweimal kräftig, gleich darauf sah Werdin am Rand der Lichtung, wie es ebenfalls zweimal aufglimmte.
»Na, Willem«, sagte eine männliche Stimme auf Deutsch.
»Na, Johann«, sagte Willem.
Werdin sah zwei Männer sich nähern. Sie trugen Uniformen. Es waren deutsche Zollbeamte. Sie leuchteten Willem und Werdin mit ihren Taschenlampen ins Gesicht. Einer war groß und massig und trug eine runde Hornbrille. Der andere war kleiner und schlank und hatte eine Glatze.
»Wer ist das?«, fragte der Große.
»Ein Landsmann von euch, er will nur ein paar Geschäfte in Köln machen.«
»Schon wieder einer.«
»Ja«, sagte Willem. »Schon wieder einer.«
»Den Letzten hat die SS geholt. War wohl doch kein Geschäftsmann.«
»Kann sein«, sagte Willem. »Aber Karl hier ist einer.«
»Gut«, sagte der Zollbeamte. »Wir nehmen ihn mit nach Kaldenkirchen, dann muss er sehen, wie er weiterkommt. Hast du unsere Gefahrenzulage dabei?«
»Klar«, sagte Willem. »Ein Sack dürfte reichen als Bezahlung, da ist sogar noch ein Fahrrad drin. Aber dreht ihm keinen Rostesel an, der andere Sack kostet das Übliche.«
Der Zollbeamte griff in seine Tasche und gab Willem einen Umschlag. Willem steckte den Umschlag ein, drehte sich um und verschwand in der Nacht.
Die Zollbeamten nahmen die Säcke, der eine sagte: »Komm mit!«
Werdin folgte ihnen. Sie durchquerten den Wald, bis sie an einen Feldweg kamen. Dort stand ein offener VW-Kübel. Die Beamten warfen die Säcke auf die Rückbank und legten eine Decke darüber. »Setz dich dazu und halt die Decke fest«, sagte der Große zu ihm. Der Glatzkopf klemmte sich hinters Steuer und startete den Wagen.
Die Zollbeamten sagten nichts mehr, bis sie den ersten Ort hinter der deutsch-holländischen Grenze erreicht hatten: Kaldenkirchen. Sie parkten den Wagen am Ortsrand vor einem Schuppen, der Große schloss auf, dann trugen sie die Säcke hinein. Der Glatzkopf bedeutete Werdin auszusteigen. Seine Hand zeigte nach Osten. »Wenn du dich nach Köln durchschlagen kannst, hast du erst mal deine Ruhe, es sei denn, du machst
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