Der 21. Juli
sagte Werdin. »Aber Paul ist gewissermaßen mein großer Bruder.«
»Ich weiß«, sagte Fritz, »und du hängst an ihm. Er hat dich zu uns gebracht. Und er hat dich zu dem gemacht, was du heute bist. Er ist mehr als ein Bruder, er ist fast dein Schöpfer.«
»Heute bist du ja richtig religiös, das kennt man gar nicht von dir, bist doch sonst ein Pfaffenfresser.«
»Red keinen Unsinn. Paul hat dich zum Kommunisten gemacht, na ja, vielleicht hast du ja auch einen kleinen Beitrag dazu geleistet.«
Werdin lachte trocken. »Ohne Paul hätte ich dich nicht kennen gelernt. Ich weiß allerdings nicht, ob das nun ein Gewinn oder ein Verlust ist.«
Fritz tat so, als guckte er böse. »Wenn du so weitermachst, verpfeif ich dich an die Gestapo. Die hätten einen Spaß mit dir.«
»Arschloch«, sagte Werdin und nahm einen kräftigen Schluck.
»Schmeckt wie Pisse. Das nächste Mal bitte ein kühles Bier, wenn es schon zu Ehren unseres großen Führers dünn sein muss.«
Fritz grinste ihn mit seinen Stummelzähnen an. »Sei froh, dass du überhaupt was kriegst.« Er wiegte den Kopf einige Male hin und her.
»Du musst keine Angst haben - wenn sie Paul gefangen haben, er verrät dich nicht. Lieber lässt er sich umbringen.«
»Das wäre das Leichteste«, sagte Werdin. »Bevor sie ihn umbringen, foltern sie ihn. Das können sie, glaub’s mir.«
Werdin stellte die Bierflasche auf den Tisch, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte zur Decke. Szenen der Vergangenheit fielen ihm ein. Paul als Schulkamerad am LeibnitzGymnasium, ein aufgeweckter, vergleichsweise kleiner Junge, mit schwarzen Haaren und lebhaften schwarzen Augen hinter den dicken Brillengläsern. Bei Paul zu Hause. Seine Vater war Philosophiedozent an der Friedrich-Wilhelms-Universität und Redakteur eines linken Intellektuellenblatts, bis die Nazis ihn davonjagten. Paul hatte Werdin in den kommunistischen Jugendverband gebracht, dort war Werdin hängen geblieben, wenn ihm auch nicht alles gefallen hatte, vor allem nicht die Anbetung der großen Führer Josef Stalin und Ernst Thälmann. Das erinnerte ihn zu sehr an die Hitler-Verehrung, der auch in seiner Verwandtschaft einige frönten. Werdin entsann sich noch seines Erstaunens, als Paul ihm kurz nach der Machtergreifung sagte, er solle in die SA eintreten. Als Hitler seinen vermeintlichen Konkurrenten, den SA-Führer Ernst Röhm, mit seinen Leuten in einem bayerischen Dorf überfiel und von der SS ermorden ließ, sagte Paul, die SA sei nun nichts mehr wert im Dritten Reich, nun solle Werdin versuchen, in die SS aufgenommen zu werden. Die SS freute sich über SA-Leute, die überliefen, denn nach dem so genannten Röhm-Putsch herrschte Hass zwischen den beiden Nazi-Kampforganisationen. Zunächst war Paul sein Führungsoffizier gewesen, aber eines Tags hatte Paul gesagt, Werdin möge nun seine Informationen direkt zu Fritz, dem Funker, bringen, er müsse untertauchen, die Gestapo sei ihm auf der Spur, sein Haus werde bereits beschattet, das Telefon gewiss abgehört. Nun war Paul untergetaucht oder in der Hand von GestapoMüller. Wenn Paul auspackte, war Werdin erledigt, aber Paul würde nicht auspacken.
»Du denkst an Paul?«, fragte Fritz.
»Ich würde dir meine Großmutter verkaufen, wenn du mir sagen könntest, wo er steckt.«
»Wie kommst du darauf, dass ich deine Großmutter will?«
Werdin musterte Fritz auffällig, verkniff sich dann aber eine Antwort.
»Ich weiß selbst, dass ich nicht Dieter Borsche bin«, sagte Fritz. Es klang beleidigt.
»Schon gut, Fritz. Es zählen doch die inneren Werte«, sagte Werdin lächelnd.
»Drecksack«, sagte Fritz und grinste. »Es ist eine wahre Freude, mit einem echten Herrenmenschen zusammenarbeiten zu dürfen.«
»Heil Hitler«, sagte Werdin.
»Wenn ihn doch nur mal einer heilen würde. Sag mal, stimmt das wirklich, der große Führer landet bald unter der Erde?«
»Sieht so aus«, sagte Werdin.
»Und was dann?«
»Frag Moskau.«
III.
M argarete Mellenscheidt mühte sich, eine Kaffeetafel zu bereiten. Irma hatte den Arbeitsdienst hinter sich gebracht, ein Grund zu feiern. Margarete hatte für dieses Ereignis Lebensmittelmarken gespart und einiges unter der Hand besorgen können. Nur richtigen Kaffee gab es nicht, dafür aber Butterkuchen, der seinen Namen fast verdiente. Während sie den Tisch deckte, fiel die Angst sie an. Würde Klaus die Ostfront überleben? Es muss ein Gemetzel sein, dachte Margarete. Ihre Hände zitterten, sie sah den Brief
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