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Der 21. Juli

Der 21. Juli

Titel: Der 21. Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
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»Gefallen für Führer, Volk und Vaterland« vor ihren Augen. In der Nachbarschaft hatte es schon viele Familien getroffen. Sie erinnerte sich, wie Frau Bogen nebenan plötzlich schrie, als der Postbote ihr die Einschreibesendung übergeben hatte. Ihr Mann Horst war Maat auf einem U-Boot im Atlantik gewesen. In den Zeiten der großen Siege gegen die alliierten Geleitzüge hatte er auf Urlaub den Helden gegeben. Jetzt lag er als Fischfutter auf dem Meeresgrund, und die Siegesmeldungen waren rar geworden. Was für ein Glück, dass in meiner Familie noch keiner vom Krieg gefressen wurde, dachte Margarete. Aber wenn sie an ihr Glück dachte, ahnte sie, es konnte nicht so bleiben.
    Es klingelte an der Tür. Margarete strich hastig über ihre Schürze und prüfte mit den Händen, ob ihre Frisur saß. Sie öffnete die Haustür. Auf der Treppe stand Irma, neben ihr ein brauner Lederkoffer. Irma sagte: »Du willst mich wohl gar nicht reinlassen.«
    Margarete schüttelte den Kopf, Tränen traten in ihre Augen, sie umarmte ihre Tochter. Drinnen nahm sie ein Tuch und wischte sich verschämt die Augen trocken. Irma stellte den Koffer in den Flur, hängte ihren Mantel in die Garderobe, nahm ihre Mutter in den Arm und führte sie in die Küche. Sie setzten sich an den Küchentisch. Irma ließ ihren Blick schweifen, es hatte sich nichts geändert, alles blitzte vor Sauberkeit. Auf einem Küchenschrank stand ein Strohblumenstrauß.
    Ihre Mutter war alt geworden, harte Falten umrahmten ihren Mund, das Gesicht war schmal. Unter der Freude über die Rückkehr der Tochter glaubte Irma Traurigkeit zu erkennen.
    »Wie geht es Papa?«, fragte Irma.
    »Gut. Aber er hat Angst, dass sie seine Firma auch noch zerbomben.« Gustav Mellenscheidt war Prokurist in einer Maschinenfabrik, die aber seit Jahren Artilleriemunition herstellte.
    Irma schwieg eine Weile und fragte dann: »Hast du was von Klaus gehört?«
    »Vor zwei Wochen kam ein Brief. Sie mussten die Krim räumen. Wo er jetzt ist, weiß ich nicht.« Sie begann wieder zu weinen. »Viele Leute sagen, wir sollten aus Berlin weggehen wegen der Bomben. Aber wohin? Und wenn Klaus doch auf Urlaub kommt, findet er uns nicht.«
    »Ihr könntet es ihm schreiben.«
    »Und wenn er den Brief nicht kriegt?«
    Sie hat Recht, dachte Irma. In dem Chaos, das an der Ostfront herrschte, konnte niemand garantieren, dass ein Brief seinen Adressaten erreichte. Es war ein Wunder, dass überhaupt noch Briefe ankamen. Und ihre Mutter war verwurzelt hier, wo sie seit fast zwanzig Jahren lebte. Von Berlin wegzuziehen hieße anzuerkennen, dass es mit dem glücklichen Familienleben vorbei war.
    Irma stand auf, umarmte ihre Mutter kurz, ging in den Flur, nahm sich den Koffer und stieg die Treppe zum ersten Stock hoch. Dort hatte sie neben dem Schlafraum der Eltern ihr Zimmer, mit all den kleinen Geheimnissen ihres jungen Lebens. Sie setzt sich auf die Schlafcouch, weit weg schon die Plackerei beim Arbeitsdienst. Hier saß sie inmitten ihrer Erinnerungen: erste Verliebtheit, das Poesiealbum, der bald abgebrochene Versuch, ein Tagebuch zu führen, Elisabeth, ihre beste Freundin, die irgendwo am Atlantikwall als Wehrmachthelferin Dienst tat. Irma wusste, auch sie würde arbeiten müssen für den Krieg, sie fand dies so bedrückend wie gerecht. Die Männer kämpften an den Fronten, die Frauen in den Fabriken.
    Und was wurde mit Zacher? Sie hatten sich angeregt unterhalten auf der Fahrt nach Berlin. Kurz bevor er sich am Bahnhof Friedrichstraße von ihr verabschiedete, bat er sie um ihre Anschrift. Sie zögerte, sie ihm aufzuschreiben. Dann sagte sie: »Ich wohne in Biesdorf.« Sie gab ihm schnell die Hand, drehte sich um und ging. Bald bereute sie ihre Unentschlossenheit. Warum sollte ich mich von ihm nicht einmal zum Kaffee einladen lassen?, dachte Irma. Eigentlich war er ein großer, hübscher Junge. Er hatte angedeutet, er werde nahe Berlin als Testpilot für einen neuen Jäger eingesetzt. »Wirklich eine Wunderwaffe«, hatte er gesagt. Er war stolz auf seine neue Aufgabe.
    Irma hörte Geräusche unten im Flur. Sie sprang auf und lief nach unten. »Papa!«, rief sie und umarmte ihren Vater heftig.
    »Lass mich bitte noch ein bisschen leben«, bat Gustav Mellenscheidt lachend. »Du musst ja nicht ausbügeln, was unsere verehrten Feinde bisher nicht geschafft haben.«
    »Du bist früh heute«, sagte Irma, sie ließ ihren Vater los.
    »Na ja, meine Tochter wird ja nicht jeden Tag aus dem Arbeitsdienst entlassen. Da

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