Der 26. Stock
Frauen, tanzten fast nackt auf Podesten, die im Raum verteilt waren.
»Wir gehen in ein Separee!«, schrie Luna Isabel zu und fasste sie bei der Hand.
Dann führte sie sie durch die Masse von Körpern, die sich im merkwürdigen Takt der elektronischen Klänge schüttelten. Ein
weiterer Wachmann, der seinem Kollegen am Eingang zum Verwechseln ähnlich sah, trat beiseite. Mit Mühe zog Luna eine der schweren
Türen auf, und sie gingen hinein.
»Ich dachte schon, ihr wärt verlorengegangen!«, rief Gaardner ihnen entgegen.
Er hatte die Krawatte abgelegt und hielt einen Becher mit einer glänzenden blauen Flüssigkeit in der Hand. Die anderen begrüßten
Isabel und Luna mit Gelächter und Scherzen. Sie saßen um einen niedrigen Tisch herum, wie Isabel ihn einmal in einem japanischen
Restaurant gesehen hatte.
»Okay, dann können wir ja mit dem Essen anfangen«, sagte ein junger Typ, von dem Isabel nur wusste, dass er sich mit Fremdsprachen
und Kryptografie auskannte.
Gaardner klatschte zweimal in die Hände, und ein Wandpaneel an der Rückseite des Raums schob sich zur Seite, um eine Frau
mit asiatischen Gesichtszügen hereinzulassen. Sie trug einen Kimono. Luna streifte die Schuhe ab und reichte sie der Frau.
Dann bedeutete sie Isabel, es ihr gleichzutun.
»Entschuldigt mich einen Moment«, sagte Isabel, »ich muss mal kurz raus.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie zur Tür und ließ sich von dem Wachmann den Weg zu den Toiletten erklären. Die Leuchtröhren
in der Damentoilette strahlten so hell, dass sieblinzeln musste. Vor dem großen Spiegel, der eine ganze Wand ausfüllte, stand eine schick gekleidete Frau über das Waschbecken
gebeugt und zog sich weißes Pulver in die Nase. Isabel ging in eine der Kabinen, klappte den W C-Deckel zu und setzte sich. Als sie in ihrer Tasche nachsah, war sie nicht überrascht, dass die Mappe mit den Personaldaten fehlte.
Zuerst dachte sie an Gaardner, das schien naheliegend. Aber hatte sie nicht auch ihre Sachen in ihrem Büro liegen lassen,
als sie zu Rai gegangen war? Ja, doch. Isabel zog das Handy heraus. Hastig schaltete sie es an und wartete. Wie vermutet,
kam nach wenigen Sekunden das Piepsen, mit dem eine SMS angekündigt wurde. Anscheinend hatte jemand den ganzen Nachmittag
über versucht, sie zu erreichen. Der Mann, der Carlos das Leben gerettet und versprochen hatte, Teo zu finden. Isabel stand
auf. Bevor sie mit Inspektor Márquez Kontakt aufnahm, würde sie versuchen, ihren Bruder zu erreichen. Sie hoffte so sehr,
ihn zu erreichen. Beim siebten Klingeln gab sie den Versuch auf; bevor sie die Nummer des Polizisten wählen konnte, hörte
sie jemanden rufen.
»Isabel? Bist du da drin?«, fragte Luna, die offenbar gerade die Toilette betrat.
Isabel steckte das Handy wieder ein, betätigte die Spülung und trat aus der Kabine.
»Komm schon, sonst wird noch das Essen kalt.« Luna hielt kurz inne, sah Isabel in die Augen und fragte: »Ist alles in Ordnung?«
Isabel nickte lächelnd. Luna lächelte zurück und sie gingen zusammen zum Separee, wo ein köstliches Mahl aus japanischen Nudeln
und Sushi auf sie wartete.
»Und da beschloss ich, Psychologie zu studieren«, erklärte Gaardner, während er Isabel und sich Likör nachschenkte.
Das Essen hatte hervorragend geschmeckt und alle hatten die ganze Zeit gelacht und waren Isabel gegenüber sehr aufmerksam
gewesen. Nach dem Dessert zog Luna die anderen auf die Tanzfläche. Gaardner und Isabel waren sitzen geblieben. WährendIsabel mit dem Glas in der Hand zur Decke blickte, fiel ihr etwas ein, und sie konnte sich die Frage nicht verkneifen.
»Woher wusstest du eigentlich, für welches Büro ich mich entscheiden würde?«
Gaardner drehte sich zu ihr um und sah sie lange an. Isabel konnte seinen Atem auf ihrer Wange spüren.
»Hast du das nicht gemerkt? Die Türklinke.« Isabels Körper fühlte sich schwerelos an, sie glaubte fast zu schweben. »Ich habe
die Türklinke mit Vanillearoma eingesprüht. Man hat mir gesagt, das sei dein Lieblingsduft. Dein Büro roch danach, und meines
auch.«
»Weißt du, warum mein Büro nach Vanille riecht?«, fragte Isabel.
»Weil dein Bruder es jeden Abend damit eingesprüht hat.«
Diesen letzten Satz hatte er in einem anderen Ton gesagt. Sie wollte sich zu ihm umdrehen und ihn fragen, was genau er wisse,
aber ihr fehlte die Kraft dazu. Sie bewegte nur die Lippen und wartete darauf, die Worte zu hören, die aus ihrem Mund
Weitere Kostenlose Bücher