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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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helfen konnte. Seine Mentoren hatten ihm das beigebracht: Die Regeln zu
     brechen, war nicht schlimm, solange es einem den Sieg sicherte. Er schaltete den Fernseher aus, stand auf und ging ins Schlafzimmer.
     Luna hatte das Licht ausgeknipst. Wortlos zog Gaardner das Hemd aus. Er sah, wie Luna ihn von ihrem Kissen aus still beobachtete.
     Er konnte hören, wie ihr Atem schneller wurde. Er lächelte. Unglaublich, welche Faszination Geld auf manche Menschen ausüben
     konnte. Nackt trat er ans Bett und Luna schlug die Laken zurück, um ihm Platz zu machen. Als er sich auf sie legte, öffnete
     sie den Mund, aber Gaardner legte ihr einen Finger auf die Lippen.
    »Schschsch   … Ich will nicht reden, und ich will nicht, dass du mit irgendwem darüber redest. Verstanden?«
    Luna nickte, sie griff nach seinen muskulösen Schenkeln und zog ihn an sich. Gaardner dachte an Isabel. Als er kam, hatte
     er bereits einen perfekten Plan für das Ende des Countdowns gefasst.

28
    Ein Ehepaar spazierte über den Gehsteig. Vor ihm rannten zwei Jungen und ein kleineres Mädchen einem Ball hinterher. Einer der Jungen fing den Ball
     und warf ihn dann hoch in die Luft, damit die Kleine nicht darankam. Der Vater ging zu ihr und nahm sie in den Arm. Aber noch
     bevor ihre Fingerchen den Ball zu fassen bekamen, erhob sich ein staubiger Windstoß und ließ ihr Gesicht und den restlichen
     Körper zerfallen und die anderen Spaziergänger dazu. Nur der Vater blieb übrig, um zehn Jahre gealtert.
    Hugo trat vom Fenster zurück und setzte sich auf den Boden. Seine Familie war nicht mehr da. Er hatte nicht erwartet, dass
     er sie so sehr vermissen würde. Er sah sich um. Eine bessere Zuflucht hätte er sich nicht ausdenken können. Sie würden eine
     Weile brauchen, bis sie ihn hier fanden. Er zog die alte Pfeife aus der Tasche und steckte sie an. Zum Glück hatte er daran
     gedacht, sich einen ordentlichen Tabakvorrat anzulegen. Essen und Getränke waren vorhanden. Allmählich gewöhnte er sich an
     das Eingesperrtsein. Er hatte auch schon die passenden Stellen gefunden, an denen er rauchen konnte, ohne den Feueralarm auszulösen.
    Um sich herum hatte er sich mit Bedacht eine gewisse Unordnung geschaffen, damit der Ort etwas Vertrautes bekam. Trotzdem
     war er nervös. Es gab noch viele offene Fragen. Er wusste nicht, ob sie ihn jagen würden wie die anderen. Aber er würde sich
     zu verteidigen wissen, und ansonsten sollte kommen, was kommen musste. Ihm hätte schon genügt zu wissen, wann sie kämen. Er
     stand auf und sah wieder aus dem Fenster. Er fragtesich, wo Isabel wohl steckte. Bestimmt nicht sehr weit weg. Er hatte alles für sie getan, was er konnte, obwohl er vielleicht
     noch einmal würde eingreifen müssen.
    Hugo ging in die Putzkammer und entzündete ein Streichholz. Auf der Straße sollte niemand Licht brennen sehen. Im Widerschein
     der Flamme kramte er in einem der Regale herum, bis er gefunden hatte, was er suchte: einen aufgerollten Strick.
    Dann ging Hugo zurück ins Zimmer und legte die Pfeife auf den Tisch. Er konzentrierte sich darauf, einen möglichst sauberen
     Knoten zu binden. Seine Hände zitterten nicht. Er war ganz ruhig. Nur weil er vermutete, dass er nicht gewinnen konnte, würde
     er nicht aufgeben. Wie gerne hätte er jetzt seine Frau geküsst. Aber es gab kein Zurück mehr. Vorsichtig stieg er auf den
     Sessel. Er band eines der Enden des Stricks an ein kleines Eisenrohr. Hoffentlich würde es halten. Wie lästig es wäre, wenn
     das Rohr nachgäbe und er noch mal von vorne beginnen müsste. Als er den Strick befestigt hatte, atmete er tief durch. Dann
     steckte er den Kopf in die Schlinge und zog sie um seinen Hals. Mit etwas Glück würde in wenigen Sekunden alles vorbei sein.
     Hugo beugte sich zurück, holte Luft und stieß sich ab. Der Sessel stürzte um und schlug gegen einen Tisch. Das war das Letzte,
     was er sah, bevor er für eine Zehntelsekunde spürte, wie er fiel. Dann war da ein Geräusch, wie wenn ein Zweig bricht. Doch
     das konnte Hugo nicht mehr hören. Sein Mund stand halb offen, und ein Speichelfaden lief über seine fühllose Unterlippe. Hugos
     schwerer Körper schaukelte ein paar Augenblicke lang in kleinen Kreisen hin und her, dann endete die Bewegung. Stille trat
     ein.
    Nach etwas mehr als zwanzig Minuten klingelte ein Telefon auf einem Schreibtisch ganz in der Nähe des baumelnden Körpers.
     Das Klingeln riss ab, doch einige Minuten später schrillte das Telefon erneut. Hugo

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