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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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kamen.
    »Wo ist mein Bruder?«
    Gaardner richtete sich auf. Er saß jetzt auf dem Boden und musterte sie besorgt.
    »Wie meinst du das?«
    »Mein Bruder ist seit gestern verschwunden«, antwortete Isabel. Sie versuchte, Gaardners unscharfes Gesicht in den Blick zu
     nehmen.
    Auf einmal war sie außerstande, sich auf das zu konzentrieren, was er sagte. Sie konnte nur noch einzelne Wortfetzen aufschnappen:
     mich darum kümmern   …, mein Möglichstes tun   …, wird ihm schon gut gehen   … Isabel sah, wie der attraktive Mund ihres Gegenübers sich öffnete und schloss, aber sie war nicht in der Lage, die Wortfetzen
     miteinander zu verbinden. Sie machte die Augen zu.
     
    Warum?
     
    Teo erschien vor ihrem geistigen Auge. Die Frage, die er stellte, hallte in Isabels Kopf wider:
     
    Warum?
     
    Er trug seinen Arbeitsoverall, der voller Blutflecken war. Sein Blick war ungläubig, und er streckte die Hände nach ihr aus.
     Es waren ganz kleine Hände, wie damals, als er neun gewesen war und Isabel ihm das Schwimmen beigebracht hatte. Die Händchen,
     die sich damals an sie geklammert hatten, um nicht zu ertrinken.
     
    Warum?
     
    Teo wurde in die Schwärze gezogen, die ihn umgab. Isabel versuchte, ihn an seinen Händchen zu packen, doch sie selbst hatte
     keine Hände. Sie bewegte sich auf ihn zu und sah an sich hinunter. Wo ihr Körper hätte sein müssen, da war nichts, nicht einmal
     ein Mund zum Schreien. Sie ließ sich neben Teo nieder, der inzwischen bis zur Hüfte verschwunden war. Er starrte noch immer
     auf denselben Punkt. Isabel wandte sich um. Das konnte doch nicht sie sein! Die Gestalt dort hinten hatte ihrem Bruder den
     Rücken zugekehrt und entfernte sich von ihm. Nein, das hätte sie niemals getan. Sie war doch hier an seiner Seite, auch wenn
     er sie nicht sehen und sie ihm nicht zurufen konnte, dass sie keine Schuld hatte, dass alles mit dem Turm zusammenhing.
     
    Warum?
     
    Die Schwärze drang in Teos Mund. Als seine letzten Worte wie Schlammblasen zerplatzten, sprang Isabel auf ihn zu. Sie versuchte,
     die Hände zu bewegen, wollte ihn um jeden Preis festhalten, bevor er endgültig verschluckt wurde, aber es gelang ihr nicht.
     Sie versuchte, die andere Isabel, die sich entfernte, zurückzurufen. Vergeblich. Sie hatte weder Hände, um ihren Bruderfestzuhalten, noch einen Mund, um zu schreien. Sekunden später war Teo verschwunden. Isabel rief um Hilfe, doch da war niemand
     mehr. Auf einmal hörte sie erneut die Stimme in ihrem Kopf widerhallen.
     
    Warum?
     
    Und da wusste sie, dass das nie mehr aufhören würde. Auch wenn Teo von der Dunkelheit verschluckt worden war, er würde für
     alle Zeiten seine Frage wiederholen, sie aber würde niemals den Mund öffnen und antworten können. Da stürzte sie sich selbst
     in die Schwärze. Sie sank und sank und wollte dabei nur einen einzigen Satz herausbringen, vier Wörter, die ihren Bruder dazu
     bewegen sollten, mit der Frage aufzuhören und endlich zu verstehen, dass sie unschuldig war. Sie sind schuld daran, wollte
     sie sagen, sie sind schuld daran.
     
    »Wer sind ›sie‹?«, fragte Gaardner, der hinter dem Steuer saß.
    Isabel öffnete die Augen. Sie lag auf dem Rücksitz. Über sich sah sie durch die Rückscheibe die Gebäude und Straßenlaternen
     vorüberziehen. Alles begann sich zu drehen, und sie musste die Augen wieder zumachen.
    »Die Firma. Die machen schlimme Sachen.«
    »Jetzt leg mal eine andere Platte auf!«, lachte Luna. »Ich hab’s dir doch schon gesagt, die sind nicht schlimmer als jedes
     andere Großunternehmen auch. Schau dir nur mal deine Tasche an. Europäische Markenware, aber ich wette, drinnen steht ›Made
     in China‹. Kannst du dir vorstellen, wie viel Kinderarbeit nötig war, um diese hübsche Tasche zu produzieren?«
    Isabel antwortete nicht. Ihr war schwindlig, und ihr Hirn weigerte sich weiterzudenken.
    »Ich   … ich muss einen Anruf machen   … Wie spät ist es überhaupt?«
    »Keine Ahnung«, sagte Gaardner, »bestimmt nach vier.«
    Zu spät, um noch jemanden anzurufen; zu viel Alkohol, um an irgendetwas anderes zu denken als an Schlaf. Isabel versuchte
     die Augen zu öffnen, aber ihre Lider fühlten sich bleischwer an. Sie überließ sich dem Schlaf.
     
    Als der Porsche an der nächsten Ampel hielt, drehte Gaardner sich in seinem Sitz um und sah, dass Isabel weggedämmert war.
     Er dachte, dass sie bezaubernd aussah, wie sie da so wehrlos lag – wie ein Vögelchen, das kein Nest hatte, in

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