Der 26. Stock
machte die Augen auf. Ein Anruf. Er zog
ein Feuerzeug aus der Tasche, hielt es über den Kopf und wartete, bis die Flamme den zum Zerreißen gespannten Strick versengt
hatte, der ihn wenige Zentimeter über dem Fußboden hielt. Als der Strick nachgab, fiel Hugo zu Boden. Mit Mühe wand er sichaus der Schlinge, die sich festgezogen hatte. Der Kopf tat ihm weh. Er ging zum Schreibtisch und nahm den Hörer ab.
»Ja.«
Hugo machte dem Anrufer weder Vorhaltungen, ihn aus dem Reich der Toten zurückgeholt zu haben, noch fragte er ihn nach seinem
Namen. Das war nicht nötig. Hugo war die Antwort schon bekannt gewesen, bevor er abgenommen hatte. Er verzichtete darauf,
den Moment der Schwäche zu erwähnen, den er gerade durchlebt hatte. Stattdessen hörte er still zu, nickte nach einigen Sekunden
und legte auf. Im Dunkeln tastete er nach seiner Jacke. Man hatte ihn gerade um einen Gefallen gebeten.
29
An die Zimmertür gepresst lauschte Vera, ob sich draußen jemand regte. Im Flur war es still. Sie nahm ihre Handtasche, verließ das Zimmer und
sperrte die Tür hinter sich zu. Das Tageslicht hatte den Flur des Motels noch nicht erreicht, der nur kümmerlich von einer
flackernden Leuchtstoffröhre erhellt wurde. Jemand hatte die Plastikpflanze im Treppenhaus auseinandergerupft, wahrscheinlich
nach einer nächtlichen Kneipentour. In den letzten Tagen waren ihre Sinne aufs Äußerste geschärft worden. Vera konnte inzwischen
Menschen an ihrem Schritt erkennen: Sie konnte sagen, was sie für Schuhe trugen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte,
wie schwer er oder sie war … Ein paarmal hatte ihr das geholfen, ihren Verfolger auszumachen und rechtzeitig zu fliehen. Das war jetzt schon das fünfte
Motel, aber wenigstens gab es hier einen Kaffeeautomaten. Vorsichtig ging sie die Treppe hinunter. Hinter dem Tresen schnarchte
ein Fettwanst im Unterhemd, den Kopf auf das Gästebuch gestützt. Es war derselbe Mann, der sie am Abend zuvor begrüßt hatte.
»Zimmer Nummer vier, ja? Kostet etwas mehr als ein normales Doppelzimmer«, hatte er gesagt, bevor er ihr die Zimmerschlüssel
aushändigte.
Vera hatte sich erkundigt, ob es im Haus einen Wachdienst gab.
»Aber sicher, gnädige Frau«, hatte der Mann geantwortet, während er ihr unverhohlen auf ihre Brüste starrte. »Unser Motel
ist rund um die Uhr bewacht.«
Und da hing er nun hinter dem Tresen, der angebliche Nachtwächter – im Tiefschlaf, etwaigen Eindringlingen hilflos ausgeliefert.Vera warf eine Münze in den Kaffeeautomaten. Kurz darauf spürte sie, wie ihre Finger durch den Plastikbecher hindurch die
angenehme Wärme aufnahmen.
Auf leisen Sohlen ging sie Richtung Eingangstür. Freitag. Ein bewölkter Morgen. Bald würde es regnen. Auf dem Parkplatz, der
das Motel von der Autobahn trennte, standen mehrere Lkw.
Vera erinnerte sich noch gut an das Treffen im »Jym’s« mit Isabel. Nachdem sie aus dem Restaurant geflüchtet war, hatte sie
die Koffer gepackt und versucht, den Mädchen weiszumachen, sie würden wegfahren, weil die Wohnung renoviert werden sollte.
Ana, die jüngere von beiden, hatte nicht geantwortet, Clara jedoch sah sie auf eine Weise an, wie Vera es noch nicht erlebt
hatte. Clara kannte also Wahrheit, sie hatte gesehen hatte, was vor ein paar Nächten geschehen war, als Alberto sie heimgebracht
hatte. Und sie wusste: Sie durfte jetzt keine Fragen stellen.
Vera war ihrer älteren Tochter dankbar dafür. Sie beugte sich zu ihr hinunter, sah ihr in die Augen und umarmte sie, und dabei
wurde ihr klar, dass Clara ab sofort kein Kind mehr war. Dann packten sie eilig ein paar Koffer und fuhren los. Ein Ziel hatten
sie nicht. Vera wollte aus der Stadt verschwinden, aber sie wusste nicht, wohin. Man hatte ihr gesagt, Alberto könne ihr nun
nicht weiterhelfen, und sie hatte weder Verwandte, an die sie sich hätte wenden können, noch Freunde außerhalb der Firma.
Am Ende entschied sie sich für ein anonymes, nicht allzu teures Motel am Stadtrand, wo untreue Geschäftsmänner sich mit ihren
Geliebten trafen. Das Zimmer war klein und hatte nur ein Bett, dazu ein Bad mit Duschkabine und einem winzigen Fenster, durch
das sie sich gequetscht hatten, als er bei Morgengrauen kam und sie fliehen mussten.
Den ganzen zweiten Tag über hatte sie sich mit den Mädchen in den Kaufhäusern der Innenstadt herumgetrieben und am Abend ein
zweites Motel aufgesucht, aus dem sie ebenfalls fliehen mussten.
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