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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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wegfahren können. Angefangen mit der Ägyptenreise. Am meisten schätzte
     Isabel an ihrem Job, dass sie es ruhig angehen lassen und einen ganzen Vormittag für drei oder vier Vorstellungsgespräche
     aufwenden konnte. Den Kandidaten genug Zeit zu widmen, vielleicht sogar etwas mehr als nötig, war die sicherste Methode, Fehler
     zu vermeiden, vor allem wenn man wollte, dass sie dem Konzern die nächsten Jahre treu blieben. Nach dem letzten Gespräch,
     während dem ein gerade mal Zwanzigjähriger ihr in allen Einzelheiten von einem Rolling-Stones-Konzert erzählte, das er als
     Dreikäsehoch mit seinen Eltern besucht hatte, beschloss Isabel, es noch mal beiVera zu versuchen. Sie sagte Luna, sie habe vor dem Mittagessen noch ein paar Dinge abzuarbeiten, und schloss ihre Bürotür.
     Gerade als sie den Hörer abnehmen wollte, klingelte das Telefon.
    »Ja, bitte?«
    »Isabel? Ich bin’s, Vera.« Die Stimme ihrer Freundin klang irgendwie anders als sonst, obwohl Isabel nicht hätte sagen können,
     warum.
    »Dich wollte ich gerade anrufen, ich hab's schon vorher probiert, aber   …«
    Ein heftiger Hustenanfall am anderen Ende der Leitung unterbrach sie.
    »Hör mal, tut mir leid wegen heute Morgen. Ich muss dir das näher erklären, aber jetzt kann ich nicht reden. Können wir morgen
     zusammen mittagessen gehen?«
    »Ja, aber   …«
    »Dann also morgen da, wo wir uns immer treffen. Ciao.«
    Damit legte sie auf, und Isabel hörte nur noch das Freizeichen. Es war sonst nicht Veras Art, ein Telefonat einfach abzubrechen.
     Und dann war da noch etwas ganz Seltsames. Vera hatte »da, wo wir uns immer treffen« gesagt, aber diesen Ort gab es gar nicht.
     Sie hatten erst einmal woanders als in der großen Kantine im Büroturm gegessen, eine Woche, nachdem Veras Mann gestorben war.
    »Weißt du, was Alberto mir gesagt hat, als er mir heute Morgen am Telefon sein Beileid ausgesprochen hat?«, hatte Vera damals
     gefragt. Sie saßen vor zwei Tassen Kaffee an einem der Tische im »Jym’s«. »›Glückwunsch‹, hat er gesagt. Alberto kannte den
     Kerl ganz genau. Kein großer Verlust für die Welt.«
    Isabel hatte überrascht zugesehen, wie Vera an ihrer Zigarette zog und lächelte. Erst als sie aus Veras Bemerkungen ein Stück
     weit rekonstruierte, was der Verstorbene für ein Typ gewesen war, begriff sie nach und nach den Sinn ihrer harten Worte. Das
     alles hatte im »Jym’s« stattgefunden. Vera musste dieses Lokal gemeint haben. Fürchtete sie, dass jemand ihr Telefonat abhörte?
     Isabel hoffte, dass nichts Schlimmes passiert war.

3
    Am Nachmittag konnte sich Isabel nur mit Mühe darauf konzentrieren, die Berichte über die Kandidaten zu verfassen, die sie am Vormittag interviewt
     hatte. Zwei der drei Bewerber hatten gut abgeschnitten, der dritte hingegen hatte seine Zeit damit vergeudet, damit zu prahlen,
     wie viele Weiterbildungskurse er absolviert hatte und wie viele Fremdsprachen er beherrschte. Wie ihr Chef zu sagen pflegte:
     »Du kannst jemanden für ein paar Monate auf eine Sprachschule schicken, aber es gibt Sachen, die kannst du ihm niemals vermitteln,
     wenn er sie nicht von Anfang an mitbringt.« Nicht alle leitenden Angestellten dachten so wie Alberto Hernán, Isabel schon.
     Um zehn vor sieben schaltete sie den Computer aus. Während sie darauf wartete, dass Rai wie üblich aufkreuzte und verkündete,
     sie könne jetzt gehen, ordnete sie die Akten auf dem Tisch. Seit er am Morgen dem Boten die Tür vor der Nase zugeknallt hatte,
     hatte sie ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Aber Rai kam und kam nicht. Um halb acht packte Isabel schließlich ihre Sachen
     zusammen, zog den Mantel über und machte sich auf den Weg zum Lift.
    »Guten Abend, Señorita Alvarado«, begrüßte Mateo sie lächelnd durch die offene Aufzugtür.
    »Na, so was, ich hatte ja noch nicht mal auf den Knopf gedrückt. Sie können wohl meine Gedanken lesen.«
    Der Mann lachte, wartete, bis Isabel eingetreten war, und betätigte den Knopf zur Tiefgarage.
    »Ich hatte Sie heute noch nicht runterkommen sehen, und da habe ich mir gedacht, bestimmt sind Sie gleich da. Wie geht's?«
    Isabel wusste nicht, wie sie Mateo erklären sollte, was vorgefallen war.
    »War ein ziemlich komischer Tag. Haben Sie heute meinen Chef, Señor Hernán, gesehen? Ich meine, falls Sie ihn überhaupt kennen.«
    Der Fahrstuhlführer runzelte die Stirn und dachte kurz nach.
    »Doch, ich weiß schon, wen Sie meinen, aber ich habe ihn nicht gesehen. Ist etwas

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