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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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wie sie dieselben Wege mit ihrem Exfreund entlangspaziert war. Sie dachte jetzt nicht mehr oft an ihn, nur
     manchmal, wenn ihr Blick auf das Foto fiel, das sie noch immer in einem ihrer Büroregale stehen hatte. Warum bewahrte sie
     es eigentlich auf? Naja, er war kein übler Kerl gewesen. Während sie beiläufig in die Auslagen der geschlossenen Geschäfte
     sah, dachte sie daran zurück, wie schön es am Anfang ihrer Beziehung gewesen war. Damals waren sie viel spazieren gegangen
     und hatten sich ununterbrochen geküsst. Keiner von beiden hatte bis dahin Erfahrungen gemacht, die über unbeholfenes Herumknutschen
     in der Disko hinausgegangen wären. Er war immer nett zu Teo gewesen, und tatsächlich hatte das Isabel vollends überzeugt.
     Er war nicht wie die anderen, die ihren Bruder wie einen Dorftrottel behandelten. Nein, er hatte Teo so akzeptiert, wie er
     war. Sie hatten oft miteinander gespielt, und er hatte sich mit ihm den Nachthimmel angesehen und ihm die Sternbilder beigebracht.
     Als sie dann vor fünf Jahren nach Madrid gezogen war, war er mitgekommen. Er hatte einen Onkel in Madrid, bei dem er unterkommen
     konnte und der ihm einen Job besorgte. Aber er wurde hier in der Stadt nie richtig heimisch. Vielleichthätte er es geschafft, wenn Isabel mehr für ihn da gewesen wäre, aber die Arbeit nahm sie so in Beschlag, dass kaum noch Zeit
     für ihn blieb. Sie wohnten weit auseinander, und um sie besuchen zu können, musste er jedes Mal zwei Stunden fahren. Bei ihren
     Spaziergängen hatten sie über die Möglichkeit gesprochen, zusammenzuziehen, aber irgendwie kamen sie zu keiner Entscheidung,
     und auf einmal verging ein Wochenende, ohne dass sie einander angerufen hätten. Die Zeit zwischen ihren Treffen wurde immer
     länger, die Begegnungen wurden immer kürzer. Isabel hatte den Job gefunden, den sie sich gewünscht hatte, er dagegen konnte
     seinen eigenen Rhythmus einfach nicht mit dem von Madrid zusammenbringen. Eines Tages kam er vollkommen aufgelöst zu einer
     Verabredung. Er war in der U-Bahn von drei jungen Männern ausgeraubt worden. Isabel ging mit ihm zur Polizei, um den Raub anzuzeigen. Am selben Abend bat er
     Isabel, mit ihm zurück in ihre Heimatstadt zu gehen. Aber sie hatte ihn von einem Tag auf den anderen vertröstet. Als er schließlich
     alleine zurückging, versprach er ihr, auf sie zu warten, doch ein Jahr später heiratete er eine von Isabels Schulfreundinnen.
     Sie konnte ihm daraus keinen Vorwurf machen. Manchmal fragte sie sich, was aus ihnen geworden wäre, wenn diese drei Typen
     ihn nicht überfallen hätten, aber diese Frage würde niemand je beantworten können.
    Als Isabel um die Ecke bog, fand sie sich unversehens an der Tankstelle wieder. Unwillkürlich hatte sie denselben Weg gewählt
     wie am Abend zuvor. Nicht schlecht, dachte sie, da kann ich gleich etwas einkaufen.
    Von hinter dem Tresen begrüßte sie ein junger Mann. Isabel war erleichtert, dass nicht das Mädchen vom Vorabend da war. Vielleicht
     machte diese Schnepfe irgendwo eine Handy-Entziehungskur. Isabel nahm einen Einkaufskorb und ging an den diversen Regalen
     vorbei. Die Preise lagen um einiges höher als im Supermarkt. Das war auch nicht anders zu erwarten in einem Laden, der für
     Kunden gedacht war, die ihre Einkäufe nicht zu normalen Geschäftszeiten erledigen konnten. Isabel nahm ein PäckchenNudeln und ging dann hinüber zu den Süßwaren. Sie würde Teo etwas Leckeres zum Frühstück mitbringen, eine Abwechslung zu den
     ewigen Cornflakes aus der Zweikilogrammpackung. Sie wählte eine Schachtel Kekse mit Erdbeerfüllung und drehte die Packung
     um, um nach dem Preis zu sehen.
    »Mir sind ja die mit Aprikosenfüllung lieber«, sagte eine Stimme hinter ihr.
    Isabel drehte sich um. Da stand Carlos Visotti und lächelte sie an.
    »Aber du stehst auf Erdbeere, stimmt's?«
    Isabel schlug die Augen nieder und schüttelte den Kopf. Sie verstand nicht, wieso, aber sein plötzliches Auftauchen machte
     sie verlegen. Und doch war sie nicht überrascht, ihn zu sehen. Sie schien geradezu erwartet zu haben, dass so etwas passieren
     könnte.
    »Ehrlich gesagt, habe ich die noch nie gegessen.«
    »Na ja, drin ist halt so eine Art Marmelade«, erklärte Carlos. »Sie sind ein bisschen teuer, aber sehr lecker.«
    Isabel biss sich auf die Lippe. »Also gut, dann höre ich mal auf dich und nehme sie.«
    Fieberhaft suchte sie nach weiterem Gesprächsstoff, aber ihr fiel einfach nichts ein. Glücklicherweise

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