Der 26. Stock
durchbrach Carlos nach
wenigen Sekunden das peinliche Schweigen.
»Kommst du oft hier einkaufen? Ich habe dich noch nie hier gesehen, und jetzt gleich zwei Abende hintereinander.«
»Nein, nein«, antwortete Isabel. »Normalerweise kaufe ich am Wochenende ein, und Brot hole ich gleich bei mir um die Ecke.
Aber gestern hatte ich keinen Kaffee mehr …«
»Hast du das Päckchen bekommen?«, unterbrach er.
»Na klar!« Isabel wurde rot. Das hatte sie ganz vergessen. »Das war wirklich eine tolle Überraschung. Ich habe es nach einem
Meeting bekommen, das ziemlich blöd gelaufen ist. Das Päckchen hat mich wieder aufgeheitert. Danke.«
»Hast du Probleme bei der Arbeit?«
Isabel sah ihn an. Sie musste auf seine Frage nicht antworten,schließlich kannte sie ihn ja kaum. Aber ihr war danach. Sehr sogar.
»Nein, das heißt, ich weiß nicht, ob du Alberto Hernán kennst, meinen Chef, jedenfalls …«
»Sag mal, wollen wir nicht irgendwo in der Nähe einen Kaffee trinken gehen und du erzählst mir davon?«, fiel Carlos ihr ins
Wort. »Zu Hause hänge ich eh nur vor dem Fernseher ab.«
Isabel war so verblüfft, dass sie ohne nachzudenken einwilligte. Sie bezahlten ihren Einkauf und gingen hinaus zu Carlos’
Motorrad.
»Kennst du das ›Lennon‹?«, fragte er, während er seine Sachen in der Motorradbox verstaute und Isabel einen Helm reichte.
»Das gehört einem Kumpel von mir. Lass uns dorthin gehen, okay?«
Als Isabel sich hinter Carlos auf den Sitz schwang, ging ihr durch den Sinn, dass sie sich genauso gut fühlte wie am Abend
zuvor.
Fünfzehn Minuten später hielt das Motorrad vor einem Lokal mit dunklen Glasfenstern, schwarzer Fassade und einem großen John-Lennon-Porträt
in Grau- und Weißtönen auf der zweiflügeligen Eingangstür. Gegenüber der Kneipe standen quer geparkt zahlreiche schwere Motorräder,.
»Der Inhaber heißt Zacarías, aber alle nennen ihn nur Zac. Er betreibt den Laden erst seit einigen Monaten, zusammen mit seiner
Frau. Am Anfang kamen nicht viele Leute, aber inzwischen ist die Bar zu einem Treffpunkt für Biker geworden. Davon gibt’s
in diesem Teil der Stadt nicht allzu viele, die wenigen kommen allerdings jeden Tag auf dem Heimweg vorbei.«
Isabel war ein wenig erschrocken. Sie hatte noch nie Gutes von Bikern gehört, und es überraschte sie, dass Carlos so einer
sein sollte. Ihm entging das nicht:
»Hast du was gegen Biker? Wenn du magst, gehen wir woanders hin, aber das sind wirklich nette Typen, auch wenn so schlecht
über sie geredet wird.«
Isabel schüttelte beschämt den Kopf.
»Nein, entschuldige, ich hab einfach noch nie … tut mir leid.«
Carlos lächelte. Für ein paar Augenblicke bedauerte Isabel, sich vor dem Spaziergang abgeschminkt zu haben; sie kam sich vor
wie eine Fünfzehnjährige.
Im ›Lennon‹ hinten dicke Rauchschwaden in der Luft, und im Halbdunkel sah man zahlreiche Zigaretten glimmen. Es waren dreißig
bis vierzig Gäste in der Kneipe, die sich als wesentlich größer erwies, als es von draußen den Anschein hatte. Die Leute saßen
in kleinen Grüppchen an Tischen und unterhielten sich zu einem Song von Janis Joplin. Viele drehten sich zu Carlos um und
nickten zum Gruß, während er und Isabel nach hinten gingen.
»Nimm Platz. Was für einen Kaffee magst du?«
»Koffeinfrei«, antwortete sie. Für einen Espresso war es zu spät, sonst würde sie nicht schlafen können. Allerdings wurde
ihr allmählich klar, dass sie vielleicht gar nicht so früh ins Bett kommen würde.
Sie sah sich um. Die Mehrzahl der Gäste war mittleren Alters. Niemand trug eine Lederjacke, wie sie erwartet hatte. Bis auf
drei oder vier in Anzug und Krawatte waren alle ganz normal gekleidet. Außer ihr selbst zählte sie nur fünf Frauen. Carlos
kam mit einem Kaffee und einer Limo wieder.
»Schönen Gruß von Zac.«
Isabel sah zum Tresen hinüber, von wo ihr ein großgewachsener, dünner Mann mit langem schlohweißem Pferdeschwanz zuprostete.
Isabel winkte zurück.
Im Hintergrund lief Jimi Hendrix und ›Grateful Dead‹, während sie sich über ihren jeweiligen Musikgeschmack unterhielten.
Sie stimmten in vielem überein. Isabel fühlte sich ausgesprochen wohl. Schließlich war sie es, die auf den Job zu sprechen
kam. So würde sie die Sorgen, die sie sich wegen der Vorfälle am Morgen machte, wenigstens nicht bei ihrem Bruder abladen
müssen. Carlos hörte aufmerksam zu und zeigte sich aufrichtig besorgt, wenn
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