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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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passiert?«
    »Ich glaube, ja, aber ich bin nicht sicher«, gab Isabel zurück. Sie wollte nicht näher auf die Sache eingehen, bevor sie mit
     Vera gesprochen hatte. »Wissen Sie, Mateo, ich hasse dieses Gefühl, die Letzte zu sein, die etwas mitbekommt.«
    »Ach, wissen Sie, Señorita Alvarado, mein Großvater hat immer gesagt, man soll nicht immer alles sofort erfahren wollen, sonst
     macht man sich nur verrückt. Und   …«
    In diesem Moment öffneten sich die Türen, und Isabel verabschiedete sich. Vielleicht hatte Mateo recht, und es war manchmal
     besser, wenn man etwas nicht wusste. Sie mochte Mateo, warum nannte er sie bloß »Señorita Alvarado«? Ihr wäre es lieber gewesen,
     er hätte sie Isabel genannt. Das hatte sie ihm auch schon öfter gesagt, aber er hielt hartnäckig an seinem »Señorita« fest.
    Isabel stieg in ihren Ford und fuhr aus der Tiefgarage. Morgen würde sie sich beeilen müssen, wenn sie für das Gespräch mit
     Vera mehr Zeit haben wollte als die knapp bemessene Mittagspause. Sie hätte grundsätzlich lieber abends länger gearbeitet,
     um dafür mittags zu Hause mit Teo essen zu können, aber leider waren die Arbeitszeiten nicht auf ihre persönlichen Bedürfnisse
     zugeschnitten. Am Anfang war sie einige Male nach Hause gehetzt. Das hatte jedoch zu lange gedauert, außerdem hatte sie einen
     Anpfiff von Rai bekommen, der nichts Besseres zu tun hatte, als zu kontrollieren, wer zu spät zur Arbeit kam.
    Isabel brauchte länger als gewohnt für den Heimweg. Es herrschte dichter Verkehr. Obwohl sie nun schon seit Jahren in der
     Metropole lebte, konnte sie immer noch nicht abschätzen, wann es Stau gab und wann man gut durchkam. Als sie endlichzu Hause war, freute sie sich, die Wohnung nicht so ausgekühlt vorzufinden wie am Vorabend. Sie hatte Hunger und beschloss,
     sich ein Sandwich mit Putenbrust zu machen. Während das Sandwich vor sich hin toastete, entfernte sie ihr dezentes Makeup.
     Nachdem sie gegessen hatte, ging sie in das Zimmer ihres Bruders. Wenn er so weitermachte, würde ihm bald der Platz an den
     Wänden ausgehen und er würde anfangen müssen, seine Schauspieler- und Filmplakate an der Decke anzubringen. Isabel hatte ihm
     vorgeschlagen, sie in Alben zu kleben, um Platz für neue zu schaffen, aber Teo hatte das kategorisch abgelehnt. Die einzige
     Ausnahme blieb das ›Taxi-Driver‹-Poster, das dem Wüstenplakat hatte weichen müssen. Isabel suchte im Bücherregal ihres Bruders
     nach einem der Romane, die sie nur zur Hälfte gelesen hatte. Sie schaffte es einfach nicht, die Krimis und Horrorgeschichten
     zu Ende zu lesen, von denen Teo so schwärmte. Sie selbst liebte fröhliche Geschichten mit einem Hauch von Magie, in denen
     die Figuren neue, wunderbare Welten entdeckten. Sie griff nach einem Roman, in dem es dem Helden, soweit sie sich erinnerte,
     nicht ganz so übel ergangen war, und setzte sich damit im Wohnzimmer aufs Sofa. Doch schon nach kurzer Zeit stand sie wieder
     auf. Sie war nervös. Ungeduldig ging sie zum Telefon und wählte noch einmal Veras Nummer. Sie hielt es nicht aus, bis zum
     nächsten Tag auf eine Erklärung warten zu müssen. Nach zweimaligem Klingeln nahm jemand ab.
    »Ja?«
    Sie erkannte die Stimme von Clara, Veras ältester Tochter.
    »Hallo, Clara, hier ist Isabel Alvarado. Ist deine Mutter zu sprechen?«
    »Weiß nicht, vielleicht schon, Moment«, antwortete das Mädchen zögernd. Isabel hörte, wie sie mit jemandem tuschelte, der
     offenbar neben ihr am Telefon stand. Nach kurzer Zeit wurde der Hörer wieder aufgenommen:
    »Ja?«
    Es war Veras Stimme.
    »Vera, ich bin's, Isabel.«
    »Tut mir leid«, unterbrach ihre Freundin sie, »ich kann jetzt nicht reden. Wir sehen uns morgen, du weißt schon. Bis dann.«
    Dass Vera das Gespräch erneut so abrupt beendete, traf Isabel völlig unvorbereitet. Völlig verdattert legte sie den Hörer
     auf. Jetzt war ihr endgültig die Lust vergangen, weiter in Teos Buch zu schmökern. Sie nahm ihren Mantel und einen Schal und
     beschloss, einen Spaziergang zu machen, um ihre Gedanken zu ordnen.
     
    Nur wenige Passanten waren unterwegs. Die Straßenlaternen waren noch nicht angegangen. Die untergehende Sonne tauchte die
     Gebäude, zusammen mit dem Nebel, der sich über die Stadt gesenkt hatte, in eine fast geisterhafte Atmosphäre. Isabel schlenderte
     ziellos umher, begegnete dabei einem Mann, der mit seinem Hund Gassi ging, und einem jungen Pärchen, das sich küsste. Ihr
     kam in den Sinn,

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