Der 26. Stock
Menschen, der sich um eine schöne Schrift bemüht hatte.
Isabel nahm das Päckchen mit in ihr Büro und legte es auf den Tisch. Veras Anblick wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Sie
musste mit ihr reden. Sie hatten ein Vertrauensverhältnis, und wenn Vera oder Señor Hernán irgendetwas Schlimmes zugestoßen
war, hätte sie das nicht vor Isabel geheim gehalten wie vor den anderen. Während sie darüber nachdachte, öffnete sie das Päckchen.
Es enthielt eine Dose Kaffee ihrer Lieblingsmarke und einen Zettel:
Ich will nicht aufdringlich sein, aber ich hatte das Gefühl, ich würde Dir was schulden.
Carlos Visotti
Isabel lächelte. Das hätte sie niemals erwartet. Bei dem ganzen Trubel hatte sie die Begegnung vom Vorabend vollkommen vergessen.
Nein, es machte ihr überhaupt nichts aus, dass Carlos soaufmerksam war. Na ja, dachte sie, wahrscheinlich gab es Frauen, die von den Männern richtiggehend belagert wurden und es
übelgenommen hätten, wenn ein Typ, den sie kaum kannten, ihnen ein persönliches Päckchen schickte. Aber sie freute sich darüber.
Es war schön zu sehen, dass es sogar in dieser Millionenmetropole noch Menschen gab, die an andere dachten und ihnen solche
Aufmerksamkeiten zuteil werden ließen. Sie verwahrte den Kaffee in ihrer Arbeitstasche. Dann legte sie die Kopien ihres Berichts
in einem Ordner ab und schaltete den PC ein. Sie überflog ihre Termine und den internen Posteingang. Zuoberst stand eine Betreffzeile,
die sie nur zu gut kannte: Gedanke des Tages. Am Anfang hatte Isabel diese Originalitätsbekundungen seitens Apolo Gaardners,
des neuen Geschäftsführenden Direktors, amüsant gefunden. Es handelte sich um fernöstliche Spruchweisheiten, philosophische
Sentenzen, die den Angestellten Denkanstöße geben sollten. Aber heute hatte Isabel schon genug zum Nachdenken, und so löschte
sie die Nachricht, ohne sie gelesen zu haben. Da klopfte es an der Tür, und Luna, eine von Isabels Mitarbeiterinnen, steckte
den Kopf durch den Türrahmen.
»Die Kandidaten sind schon hier. Soll ich den Ersten hereinbitten?«
»Gib mir noch zehn Minuten.«
Als die junge Frau gegangen war, griff Isabel zum Telefonhörer und wählte Veras interne Nummer. Sie ließ es fünf Mal klingeln,
aber niemand hob ab. Sie versuchte es auf dem Handy. Immer noch keine Antwort. Isabel sagte sich, dass sie es zur Mittagszeit
noch einmal versuchen würde, und rief Luna an: Sie könnten jetzt mit den Bewerbungsgesprächen anfangen.
Die Beschäftigungspolitik des Konzerns war etwas ungewöhnlich, aber Isabel hatte sie bald begriffen. Im Laufe der Jahre hatte
sich das Unternehmen zu einem wahren Industrieriesen entwickelt, der Hunderte von Standorten hatte und in sehr unterschiedlichen
Märkten agierte. Der Konzern produzierte alles Mögliche, von Frühstückscerealien bis hin zu Autoreifen. Deshalb stellte man
alle Bewerber ein, die bestimmte grundlegendeQualifikationen mitbrachten. »Wenn sie erst mal irgendwo angefangen haben, werden wir schon sehen, wo wir sie am besten einsetzen
können«, hatte Alberto Hernán ihr vor Jahren erklärt. Und wenn sich ein Angestellter auf seinem Posten nicht wohlfühlte, ließ
man ihn ohne Weiteres wechseln, denn es gab bisher immer irgendwo freie Stellen.
Die Vorstellungsgespräche vom Vormittag ließen Isabel ihren Frust über das abgesagte Meeting und die Unsicherheit darüber
vergessen, dass sie nicht wusste, was vorgefallen war. Sie empfing die Bewerber gerne in ihrem Büro und beobachtete, wie sie
auf diverse Fragen reagierten. Dabei versuchte sie niemals, sie mit Fangfragen oder sonstigen Tricks aufs Glatteis zu führen,
aber viele kapierten das nicht und antworteten hektisch und in wirren Sätzen. Am besten gefielen Isabel die Freigeister, wie
sie sie nannte, diejenigen, die sich in ihrer Freizeit leidenschaftlich für wenig profitträchtige Themen wie Malerei oder
Astrologie interessierten. Vielleicht passten sie nicht hundertprozentig zu dem von der Firma geforderten Profil, aber man
konnte sich mit ihnen angeregt unterhalten, und sie hinterfragten alles mehr als die anderen. Isabel selbst hatte bei ihrem
Bewerbungsgespräch zugegeben, im Grunde liebe sie nichts mehr als Musik und wäre am liebsten Weltenbummlerin. Das hatte sie
jedoch nicht im Geringsten gehindert, eine gute Mitarbeiterin zu werden. Und dank ihres Gehalts würden sie nun, da Teo schon
größer war und sie etwas gespart hatte, auch häufiger
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