Der 26. Stock
Insektenspray in die Nase … Mir fallen hundert schnellere und angenehmere Arten ein, sich umzubringen.«
»Keine Ahnung, was der im Kopf hatte«, erwiderte Márquez. »Aber er hat’s ernst gemeint. Bei den Mengen muss ihn das Zeug ein
Vermögen gekostet haben.«
Der Gerichtsmediziner nickte und zog ein in Plastikfolie gewickeltes Sandwich aus der Jackentasche. Er bot es Márquez an,
doch der schüttelte den Kopf.
»Vielleicht wollte er ja bloß ein paar Spinnen umbringen«, sagte Alicia. Sie nahm einen Schluck von dem koffeinfreien Kaffee,
den Márquez ihr mitgebracht hatte.
Der Polizist trank ebenfalls einen Schluck und kopierte den letzten Namen von der Serviette auf ein Blatt mit dem Briefkopf
seiner Dienststelle. Dann reichte er Alicia das Blatt.
»Ich möchte alles nur Erdenkliche über den Tod dieser Personen erfahren. Besonders die Namen der mit den Ermittlungen betrauten
Kollegen, soweit ermittelt wurde, und die Namen der Ärzte, die den Totenschein ausstellten.«
»Und ich als deine Angestellte finde das alles raus, oder was?«, erwiderte Alicia. Sie lehnte sich im Sessel zurück und verschränkte
die Arme. »Darf ich mich auch noch hinknien und was anderes für dich tun?«
Márquez lachte.
»Du weißt ja, wenn ich so viel um die Ohren habe, vergesse ich schnell mal, wie man mit seinen Freunden umgeht. Tut mir leid.«
»Na so was«, rief Alicia sarkastisch und richtete sich auf. »Dusiehst mich als Freundin? So ein Glück! Na ja … Hast du den anderen eigentlich gefunden, diesen Estella?«
»Könnte man so sagen«, antwortete Márquez und hatte noch einmal vor Augen, wie der junge Kerl aufgeatmet hatte, als er merkte,
dass nicht er, sondern sein Vater gemeint war. Beim Aufhängen von Gardinen aus dem Fenster gefallen? Márquez wäre beinahe
in Gelächter ausgebrochen. Ein ehrbares Ende um den Preis einer offiziellen Todesursache, bei der man dastand wie der letzte
Trottel. Merkwürdige Entscheidung. Deshalb hatte es Márquez auch nicht erstaunt, den früheren Partner von Estella senior tot
aufzufinden. Zwei Todesfälle, zwei Selbstmorde. Zwei Puzzleteilchen mehr für ein Bild, das noch nicht sehr klar zu erkennen
war. Viele Teilchen lagen noch in der Schachtel, oder vielleicht auch unter der Erde.
»Der Estella, den ich gesucht habe, ist tot. Geredet habe ich mit seinem Sohn, einem Jüngelchen, das frisch von der Akademie
kommt.«
»Na prima«, sagte Alicia sarkastisch und warf ihren Plastikbecher Richtung Mülleimer.
Márquez folgte der Flugbahn mit den Augen, der Becher traf ins Ziel. In dem Moment ging Márquez ein Licht auf.
»Übrigens, du hast mir immer noch nicht erzählt, was los ist!«, maulte Alicia. »Immer dasselbe, verdammt noch mal.«
Aber Márquez hörte schon nicht mehr hin. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und fing an, auf die Tastatur einzuhämmern,
und dabei dankte er Gott und dem Teufel für die umfangreichen Datenbanken, die ihm zur Verfügung standen. Und allmählich entwickelte
sich in seinem Kopf eine beunruhigende Theorie.
31
»Das war mein Papa, mein Papa ist nicht tot«, schrie Ana und weinte laut. Sie veranstaltete ein solches Gebrüll, dass die vier das Café
in der Innenstadt, wo sie beim Frühstück saßen, wieder verlassen mussten, kaum dass sie sich dort niedergelassen hatten. Die
Leute drehten sich schon zu ihnen um, wollten sehen, warum das Kind so verzweifelt schrie. Vera hob die Hand, doch dann nahm
sie sich zusammen. Sie hatte sich geschworen, ihre Töchter unter keinen Umständen zu schlagen. Sie wollte nicht, dass die
beiden das erlitten, was sie selbst jahrelang durchgemacht hatte. Vera wusste: Schläge von Menschen, die man zu lieben glaubte,
hinterließen Wunden, die niemals heilten. Sie atmete tief durch und ließ den Arm sinken. Ana sah ihre Mutter erschrocken an.
Draußen setzten sie sich auf eine Bank, und Ana schlief erschöpft ein, den Kopf im Schoß ihrer Schwester. Clara starrte mit
gesenktem Kopf auf das feine Haar ihrer Schwester, still und sichtlich traurig. Vera fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen
war, ihren Töchtern gegenüber die Misshandlungen ihres Mannes zu verschweigen. Wenn sie davon wüssten, wären sie vielleicht
weniger versessen darauf, dass er wiederkam.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass er das ist?«, wollte Cassandra wissen. Sie waren ein paar Schritte gegangen, ohne die
Mädchen aus den Augen zu verlieren. Vera nahm die kleine Tafel und
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