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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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schrieb:
     
    Hättest du mir geglaubt?
     
    Cassandra nickte.
    »Weißt du, warum ich mir das angetan habe?«, fragte sie nach einer Weile und zeigte auf den Verband, der ihre Ohren bedeckte.
     Ihre Freundin schüttelte den Kopf. »Gestern habe ich zum ersten Mal seit einer Woche wieder gut geschlafen. Davor war ich
     jede Nacht aufgewacht, weil ich ein Baby weinen hörte. Es schrie ganz fürchterlich. Zuerst dachte ich, das wäre bei den Nachbarn,
     aber dann stellte sich heraus, dass sie gar kein Baby haben. Das Geschrei wurde immer schlimmer. Am Ende habe ich beschlossen,
     ins Hotel zu gehen. Ich konnte mich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten. Es ging mir wirklich mies. Kaum aber hatte ich
     mich im Hotelzimmer hingelegt, brüllte das Baby auf der anderen Seite der Wand wie verrückt, als würde es nie mehr aufhören,
     als wollte es mich in den Wahnsinn treiben. Ich weiß nicht mehr, wie ich ins Bad gekommen bin, aber der Arzt in der Klinik
     hat mir erklärt, dass man mich dort auf dem Boden gefunden hat, schreiend und völlig außer mir, und in der Hand hatte ich
     eine Schere, mit der ich mir gerade die Trommelfelle durchgestochen hatte.«
    Vera verzog keine Miene. Sie sah hinüber zu der Bank, auf der ihre beiden Töchter saßen. Sie waren wundervoll. Wie konnte
     es auf der Welt gleichzeitig so schöne Dinge geben und so schreckliche. Sie war voller Mitleid ihrer Freundin gegenüber.
    »Jetzt weiß ich, wer da so schreit, Vera. Ich weiß es.« Cassandras Augen füllten sich mit Tränen. Sie würde es aussprechen.
     Und dann würde sie anfangen zu weinen und Vera würde sie in den Arm nehmen. »Das war   … Das war mein Kind, mein Baby.«
    Die beiden Frauen umarmten sich. Sie wussten, dass Cassandra die Wahrheit sagte.
    Vera hatte wie eine Löwin um ihren Mann gekämpft, als dessen Herz ihm den Dienst versagte. Sie hatte versucht, ihn wiederzubeleben,
     bis der Krankenwagen kam, alles nur, damit ihre Töchter ihren Vater nicht so früh verloren. Und sie hatte bei der Beerdigung
     die erste Handvoll Erde auf seinen Sarg rieseln lassen.
    Und Cassandra hatte vor der Fehlgeburt einen furchtbaren Schmerz verspürt. Verständnislos hatte sie dann im Krankenhaus den
     Ärzten und Schwestern gelauscht, die ihr unter örtlicher Betäubung das tote Kind aus dem Bauch geholt hatten.
    Für beide Frauen kehrte die Vergangenheit zurück, und beide hatten einen Verdacht, warum das geschah.
    Vera und Cassandra gingen zu der Bank zurück und setzten sich neben die Mädchen, die inzwischen beide schliefen. Vera strich
     Clara über das Haar, küsste Ana auf die Stirn. Dann nahm sie die Tafel und schrieb ein paar Zeilen. Ihr Mann war zurückgekehrt,
     und sie musste einen Weg finden, sich ihm entgegenzustellen. Aber das ging nicht, solange sie auf ihre Töchter aufpassen musste.
     Cassandra nickte zustimmend. Ihre Wege würden sich trennen. Vera würde ihre Töchter in Sicherheit bringen müssen, bevor ihr
     Vater ein weiteres Mal wiederkam.
    Eine Stunde später, als die Mädchen aufgewacht waren, spazierten sie zu viert durch die Stadt und aßen schließlich in einem
     Restaurant.
    Vera dankte Gott dafür, als sie ihre kleine Tochter wieder lächeln sah, als zum Dessert Schokoladenkuchen serviert wurde.
     Cass würde dafür sorgen, dass ihre Töchter an einen sicheren Ort kamen. So hatten sie es vereinbart.
    Vera breitete in einer Geste, die ihre Töchter gut kannten, die Handflächen über dem Tisch aus. Beide nahmen eine Hand, und
     ihre Mutter drückte sie.
    »Ihr zwei geht jetzt mit Tante Cass«, sagte sie, während sie den beiden abwechselnd in die Augen sah. »Sie bringt euch dann
     an einen Ort, wo ihr euch ausruhen und auf mich warten könnt, ja?«
    Ana schüttelte den Kopf.
    Clara sah auf ihren Teller, unschlüssig, wie sie sich ausdrücken sollte. »Mama, wir wollen nicht ohne dich gehen. Außerdem,
     wenn Papa   … ich   … ich weiß nicht, was los ist, aber wir wollen bei dir bleiben und dir helfen.«
    »Meine Kleinen   …« Vera drückte ihren Töchtern die Händeund spürte, wie sie den Druck erwiderten. »Am besten helft ihr mir, wenn ihr jetzt mit Tante Cass geht. Ich habe eine Menge
     Sachen zu erledigen. Wir sehen uns dann später, ja?«
    »Versprichst du das?« Clara sah ihrer Mutter fest in die Augen. Aus ihrem Gesicht war jegliche kindliche Naivität verschwunden.
     »Versprich, dass wir uns wiedersehen.«
    Vera nickte langsam. Der harte Ton ihrer Tochter traf sie. Clara stand wortlos auf,

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