Der 26. Stock
Daumen.«
Márquez wünschte ihm viel Glück und legte auf. Er hatte keine Lust, auch nur eine Sekunde länger zu reden. Es war nicht das
erste Mal, dass er bedroht wurde. Drohungen gehörten für viele Polizisten, Richter oder Staatsanwälte zum Berufsalltag, vor
allem für diejenigen, die es wagten, bis in die fauligsten Kloaken hinein zu ermitteln. Aber die Stimme des Unbekannten vorhin … Die hatte so ruhig und selbstgewiss geklungen. Das war keine Drohung oder Warnung gewesen, sondern nur eine Information.
Wenn Sie auch nur die geringsten Nachforschungen bezüglich des Unternehmens anstellen, dann hören Sie nie wieder von Ihrer
Tochter. Márquez wusste, dass das stimmte. Er konnte seine Tochter nicht rund um die Uhr bewachen. Das hatte er schon vor
langer Zeit begriffen. Jeder konnte umbringen, wen er wollte, selbst einen Präsidenten, wenn er nur geduldig genug auf seine
Chance wartete und ihm die Folgen egal waren. Das Leben war extrem zerbrechlich. Und das seiner Tochter noch mehr. Sie hatten
ihn an seiner einzigen Schwachstelle attackiert. Und sie hatten ihn empfindlich getroffen. Márquez schloss die Augen. Zum
ersten Mal seit langer Zeit hätte er am liebsten geheult.
Márquez konnte nicht schlafen und verbrachte die Nacht damit, in seinem kleinen Apartment auf und ab zu tigern und den Fernseher
ein- und auszuschalten. Ein ums andere Mal sah er sich das Video vom 27. Stockwerk an. Er war versucht, zum Telefon zu greifen und seine Exfrau anzurufen, aber er hatte keine Lust, am anderen Ende
der Leitung eine Männerstimme zu hören. Wie ein auf vierzig Quadratmetern eingesperrtes Gespenst hörte er noch die ersten
Morgennachrichten und warf sich dann auf die Matratze. Draußen vor dem Fenster startete die Stadt mit ihrer Alltagsroutine.
Er schloss die Augen und vergaß Madrid. Er wusste nicht einmal mehr, ob er zur Arbeit musste oder nicht. Die Welt hatte ihn
wieder einmal fertiggemacht. Sein Körper beschloss, ihm eine Verschnaufpause zu gönnen, und er fiel in einen langen, unruhigen
Schlaf. Genau vierzehn Stunden später wachte er auf. Das Telefon klingelte. Der Fernseher lief immer noch.
38
Ramponierte Schreibtische, kaputte Computerbildschirme, dazu Hunderte von über den Boden verstreuten Blättern Papier. Ein seltsames Bild. Der Junge konnte nicht
weit sein. Hugo schloss die Augen und horchte. Ein Wimmern. Er sah nach rechts. Es kam von hinter dem Regal. Ruhig ging er
darauf zu.
»Hallo?« Es kam keine Antwort, aber das Schluchzen brach ab. Er hatte gefunden, was er suchte. »Ich bin … ich bin gekommen, um dir zu helfen. Du bist schon lange hier, oder?«
Er trat an das Regal und bückte sich. Dahinter kauerte der Junge und starrte ihn mit schreckgeweiteten Augen an. Endlich hatte
er ihn gefunden.
»Ganz ruhig, Teo. Ich bin da, um dir zu helfen. Kennst du mich nicht mehr?«
Der Junge sah ihn verstört an und griff dann ganz langsam nach der Hand, die Hugo ihm hinhielt. Sie waren einander zwar nur
ein paarmal begegnet, aber er hatte ihn erkannt. Teo trat aus seinem Versteck hervor. Hugo strich ihm mit der freien Hand
zärtlich übers Haar und deutete auf den Aufzug.
»Wird langsam Zeit, dass wir dich hier rausholen, was, Teo?« Der Junge nickte und schniefte. Hugo lächelte freundlich. Er
war sehr mutig gewesen. Isabel konnte stolz auf ihn sein. »Komm, ich stelle dich mal ein paar Freunden vor. Außerdem willst
du bestimmt was essen, du musst einen Mordshunger haben.«
Wieder nickte der Junge, und sie gingen zusammen zum Aufzug. Da sah Hugo, dass Teo etwas bei sich hatte. Ein Stück Papier.
Er griff danach, aber Teo zog schnell die Hand zurück. Beim zweiten Versuch widersetzte er sich nicht mehr.
»Was ist denn das?«, fragte Hugo. Er sah eine kindliche Zeichnung. Ein Kind hielt eine Frau bei der Hand. »Hast du das gemalt?
Und was soll das sein?«
»Das ist da, damit es mir hilft«, gab Teo geheimnisvoll zurück. Die Aufzugtür ging auf, und Hugo warf das Papier lächelnd
auf den Boden. Der Junge streckte sich vergeblich, um es aufzuheben.
»Ganz ruhig, Teo«, sagte Hugo, während er ihn freundlich ansah und den Druck seiner Hand verstärkte. »Du bist jetzt in Sicherheit.«
Die Türen schlossen sich, und der Aufzug begann seine Fahrt nach oben.
Vera wusste, dass sie von Glück sagen konnte, den Morgen überhaupt zu erleben. Nachts war Cass wach geblieben, hatte ihr Gesellschaft
geleistet, war dann aber doch auf dem Sofa
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