Der 26. Stock
Aber vorher isst du schön auf, damit du genug Kraft hast.«
Sie versuchte, ihre Tochter bei der Hand zu nehmen, doch die Kleine stand auf und machte einen Schritt zurück.
»Ich mag nicht mehr mit dir gehen«, sagte sie. Sie hatte aufgehört zu weinen. In ihren Augen stand die innere Stärke, die
Vera ihren Töchtern immer hatte vermitteln wollen. Als Ana wieder den Mund aufmachte, ohne Schluchzen, ohne Tränen, da ahnte
Vera schon, was sie sagen und wie kalt es klingen würde. »Mein Papa hätte mich bestimmt gehen lassen.«
Vera spürte, wie dieser Satz sie bis ins Mark traf. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Die Kleine riss die Augen
auf, aber bevor ihr wieder die Tränen ins Gesicht schossen, wandte sie sich um und rannte über den Gang ins Kaufhaus hinein.
»Ana!« Clara sprang auf und lief ihr hinterher. »Mama, komm!«
Vera sah zu, wie sich ihre Kinder entfernten. Aber sie stand nicht auf, nicht einmal, als Cass sie am Arm fasste.
»Du … du kannst deine Töchter doch nicht allein lassen.«
Vera war wie gelähmt. Sie hatte alles getan, damit die beiden nicht erfuhren, was für ein Mensch ihr Vater gewesen war. Und
offensichtlich hatte sie damit Erfolg gehabt.
»Vera, wir müssen den Kindern hinterher!«
Es war, als löste sich um sie herum eine Nebelbank auf. Cass hatte recht. Zusammen liefen sie los. Die Leute bewegten sich
neugierig auf die Menschentraube zu, die sich am Ende des Ganges gebildet hatte. Vera sah sich nach ihren Töchtern um. Weit
konnten sie nicht gekommen sein.
»Haben Sie vielleicht zwei Mädchen gesehen?«
Niemand schenkte ihr allzu viel Beachtung. Als sie das Ende des Ganges erreichte, sah sie, was all die anderen Kunden so anzog.
Ein Mann mit riesiger roter Clownnase bediente mehrere Musikinstrumente, die an seinem Körper befestigt waren. Eine Trommel
hing ihm am Rücken, eine weitere am Gürtel, dazu hatte er Schellen, eine große Mundharmonika … Vera drängte sich zwischen den Leuten durch und sah sich dabei nach den Mädchen um. Das Einmannorchester wirbelte und veranstaltete
mit all den Instrumenten einen ohrenbetäubenden Lärm. Die Kinder schrien und klatschten begeistert, aber ihre Töchter waren
nicht darunter. Vera lief weiter, rief nach den Kleinen. Ein paar Leute drehten sich nach ihr um und starrten sie an wie eine
Verrückte. Sie wünschte sich, dass die Leute endlich still wären, dass der Musiker verschwände und niemand mehr Grund hätte,
laut zu lachen. Denn nur dann würden ihre Töchter sie hören.
»Clara! Ana!«
Ihr war schon ganz schwindlig. Als sie aufblickte, sah sie Cassandra in einiger Entfernung winken. Sie hatte sie gefunden.
Es war nichts mehr zu befürchten. Doch die Hoffnung verflog, als sie sah, dass an ihrer Seite nicht die Kleinen gingen, sondern
ein Wachmann.
»Ihre Freundin …«
Vera ließ ihn nicht ausreden. Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. Ihre Töchter seien verschwunden. Zwei Mädchen, sieben
und zwölf. Der Lärm der Menschenmenge erstickte ihre Stimme fast. Der Wachmann nickte, während er sich die Beschreibung der
beiden anhörte.
»Gut«, sagte er, »ich geb über Funk den Kollegen Bescheid. Aber solange hier so viel los ist, dürfte es fast unmöglich sein,
sie zu finden.«
Vera bedankte sich nicht einmal bei ihm. Sie rief wieder nach den beiden.
39
Zac erwachte in den Armen seiner Frau. Er streichelte ihr lange den Rücken und wartete, bis auch sie aufgewacht war. Als sie die Augen aufschlug,
küsste er sie. Sie liebten sich, und dann packte er seine Sachen und verabschiedete sich von ihr. Er sagte, er müsse einen
alten Freund treffen, der wieder mal in der Stadt sei. Carlos erwähnte er nicht, sonst hätte sie ihn begleiten wollen. Schließlich
war Samstagvormittag, und keiner der beiden hatte in der Bar zu tun. So kam es, dass Zac ihr eine kleine Notlüge auftischte.
Er betete seine Frau an, und genau deshalb wollte er sie keiner Gefahr aussetzen. Als er sie an der Wohnungstür küsste, hätte
er sich freilich mit aller Macht gewünscht, sie mitzunehmen.
Auf dem Weg ins Krankenhaus rief er sich noch einmal die Begegnungen mit seinem Freund in Erinnerung. Carlos mit seinem strahlenden
Lächeln, in das sich die Mädchen verliebten. Er kümmerte sich nicht darum; ein paar Enttäuschungen hatten offenbar Spuren
hinterlassen. Wie oft hatte er zu Zac gesagt, er dürfe sich glücklich schätzen, so eine tolle Frau an seiner Seite zu haben.
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