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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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in das Gesicht eines verschreckten Mädchens, das zutiefst bereute,
     was es gerade getan hatte. »Ich wollte nicht   …«
    Hastig zog sie die Tür hinter sich zu. Gaardner sah Isabel an, die neben ihm eingeschlafen war. Jetzt hatte er einen perfekten
     Moment verpasst, und das nur wegen dieser dummen Pute. Das würde sie ihm noch büßen. Er hob Isabel hoch und trug sie nach
     draußen. Am Rand der Tanzfläche wartete Luna. Sie ging hinter Gaardner her, der sie auf dem Heimweg keines Blickes würdigte.
    Nachdem er Isabel ins Bett gelegt hatte, ging er in die Küche, nahm eine Flasche Whisky und zog sich in sein Schlafzimmer
     zurück. Luna erwartete ihn nackt auf dem Bett, begierig, ihn auf sich zu spüren und ihren Fehler wiedergutzumachen. Gaardner
     öffnete die Schublade seines Nachttischs und sah auf den Wecker.
     
    22:35:12 , 22:35:11 , 22:35:10
     
    Er ärgerte sich über die verpasste Gelegenheit, und gleichzeitig wuchs in ihm die Angst vor der näherrückenden Stunde null.
     Er nahm einen tiefen Zug aus der Flasche und stürzte sich auf Luna. Für sie wurde es kein Genuss. Als Gaardner sie nach einer
     Stunde nötigte, nach Hause zu fahren, erhob sie keine Einwände. Sie rief sich ein Taxi. Auf der Bordsteinkante sitzend fing
     sie an zu weinen. Wimperntusche lief über ihre Wangen. Wie gerne hätte sie Gaardner vergessen und einen anderen geliebt, der
     sie ebenfalls liebte. Aber dazu war sie nicht in der Lage.

37
    Der alte Bote bibberte unter seinem zerschlissenen Mantel. Die Kälte kroch ihm durch die löcherigen Handschuhe, aber das störte ihn nicht
     weiter. Er hatte etwas zu erledigen. Er setzte sich in einen Hauseingang, um zu warten. Es war ein prächtiger Abend, selbst
     wenn er hier auf der kalten Steinplatte sitzen musste. Der Wunsch überkam ihn, jemand würde die Laternen und die Lichter der
     Geschäfte einfach wegzaubern, und er könnte den weiten Nachthimmel sehen. Er kauerte sich zusammen und wartete, unter dem
     Arm das Päckchen. Um sich die Zeit zu vertreiben, beobachtete er das Wohnhaus auf der anderen Straßenseite.
    Fünf Minuten später ging in einem Fenster das Licht an. Zufrieden richtete er sich auf. Er hatte sich nicht geirrt. Der Empfänger
     des Päckchens war nach Hause gekommen. Der Bote ging hinüber zum Eingang. Mühelos knackte er das Schloss und stellte dankbar
     fest, dass das Licht im Hausflur defekt war. Er zog es vor, ungesehen zu bleiben. Gemächlich stieg er die Treppe hinauf und
     blieb vor der richtigen Tür stehen. Dann zog er das Päckchen unter dem Mantel hervor, bückte sich und legte es auf den Fußabstreifer.
     Der Bewohner hätte ein richtiges Heim verdient gehabt. Er drückte zweimal auf die Klingel und ging die Treppe hinunter. Als
     er auf die Straße trat, beschleunigte er seinen Schritt. Er hatte einen weiten Weg vor sich.
     
    Als Inspektor Márquez aus der U-Bahn kam, bedauerte er, die Jacke im Bus gelassen zu haben. Nicht etwa, weil sie sie vielleicht finden und nach Spuren durchsuchen
     würden, das kümmerte ihn nicht. Ihm war einfach eiskalt.
    Zuhause angekommen ging er sofort in das enge Wohnzimmer und schaltete Fernseher und Videorecorder an. Er legte die kleine
     Kassette in den Videorecorder, schaltete das Licht aus und drückte die Play-Taste. Schon nach wenigen Sekunden wurde ihm klar,
     was los war. Rasch ließ er das Band auswerfen und legte ein zweites ein. Das gleiche Resultat, ein einziges Bild: eine glänzende
     Wolke aus weißen und schwarzen Punkten.
    »Verdammter Mist!«
    Márquez stand auf und versuchte es mit einem seiner eigenen Videos. Ja, der Recorder war in Ordnung. Vielleicht waren die
     Aufnahmen gelöscht worden. Oder vielleicht hatten die Bänder auch nie etwas enthalten. Wie naiv war er nur gewesen. Wenn jemand
     im Turm etwas zu verbergen hatte, würde er doch sicherstellen, dass er wenigstens keine Spuren hinterließ. Wütend stieß Márquez
     die Bänder zu Boden. Rein gar nichts hatte er erreicht. Márquez saß im Dunkeln da. Er atmete tief durch. Derselbe Trottel
     wie eh und je. Daran würde sich nichts ändern. Er hatte die Chance gehabt, etwas Relevantes aus dem Turm zu holen, und war
     auf den Bauerntrick mit den leeren Bändern hereingefallen. Er würde auf dem Sofa schlafen. Er hatte keine Lust, noch mal aufzustehen.
     Am Morgen würde er Zac anrufen und ihm ein zweites Mal in das Gebäude folgen. Er hatte nichts zu verlieren. Er hatte nichts.
    Márquez sah auf den Flur hinaus. Hatte da jemand geklingelt?

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