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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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reflexartig den Kopf und suchte nach einer Ausrede, aber er war gar nicht gemeint.
     »Sie können sich da nicht aufhalten. Raus mit Ihnen, sonst geht’s schnurstracks auf die Wache!«
    Hugo trat neben das Skelett dessen, was einmal die Drehtür am Eingang zum Turm gewesen war. Überall lag Schutt, aus dem dünne
     weiße Rauchfäden aufstiegen. Er sah auf die Straße hinaus. Auf einer Seite richteten mehrere Feuerwehrleute einenriesigen kalten Wasserstrahl auf das Gerippe der oberen Stockwerke. Es wäre ihm sehr zupassgekommen, wenn das Gebäude eingestürzt
     wäre. Nun würde er etwas länger warten müssen, bis er in einem neuen Hochhaus den Posten des Vorstandsvorsitzenden einnehmen
     konnte. Hugo lächelte. So richtig hatte er sich noch nicht an seinen Status gewöhnt. Er würde so lange warten, wie es sich
     als nötig erwies. Was scherte ihn schon Zeit? Für ihn war sie ohne Bedeutung.
    In diesem Moment vertrieb einer der Polizisten eine Stadtstreicherin, die in dem Schrott nach Gegenständen suchte, die sich
     zum Verkauf eigneten. Die Geier versammeln sich um das Aas, dachte Hugo.
    »Marsch marsch«, rief der Polizist, »weg hier!«
    Die Frau torkelte ein wenig hin und her, als wäre sie betrunken, doch schließlich tauchte sie unter dem Absperrband durch
     und ging Richtung Süden die Straße hinunter. Ihr Profil ließ Hugo den Atem stocken. Das war sie. Sie war hier. Er konnte sie
     nicht gehen lassen.
    »Polizei!«, rief er und lief auf den Schutthaufen zu, der ihm den Weg nach draußen versperrte. »Die Frau da! Sie darf nicht
     gehen! Halten Sie sie fest!«
    Der Polizist drehte sich nicht nach ihm um. Er hörte ihn überhaupt nicht. Hugo sah sich um. Er musste jetzt schnell handeln,
     aber nirgends war eine Öffnung in Sicht, durch die er hätte entkommen können. Er lief über die Treppe in den ersten Stock.
     Dort hatte er einen breiten Spalt gesehen. Das war Vera gewesen, die orientierungslos die Straße hinuntergewankt war. Sie
     war noch am Leben. Sie hatte überlebt, ohne ihre Strafe verbüßt zu haben, und das konnte er nicht dulden. Nur er durfte überleben.
     Er steckte den Kopf durch den Spalt. Ziemlich hoch, aber nichts im Vergleich zu dem Sprung aus dem Fenster im Krankenhaus.
     Er würde den Fall problemlos überstehen. Er trat ein paar Schritte zurück, kniff die Augen zusammen und sprang. Er hatte keine
     Sekunde zu verlieren. Etwas traf ihn heftig. Als er die Augen öffnete, merkte er, dass er immer noch dastand. Er sah Vera
     um dieEcke biegen und trat an den Spalt. Sein Herz sagte ihm, was sein Gehirn noch nicht wahrhaben wollte. Er hob die Hand. Sie
     traf auf etwas Hartes, Unsichtbares. Er versuchte es an einer anderen Stelle. Wieder das Hindernis. Ein drittes Mal. Er schlug
     in die Luft, warf sich mehrmals dagegen und begann dann zu weinen. Er weinte vor Wut. Keiner der Polizisten, die Meter weiter
     unten Wache hielten, hörten ihn. Sehen konnten sie ihn auch nicht. Das würde niemand mehr, so viel Zeit der körperlose Hugo
     auch zwischen den Wänden, die einst der Turm gewesen waren, verbringen mochte. Denn als seine Beine nachgaben und er auf die
     Knie sank, niedergeworfen von der Gewissheit der Zukunft, die ihn erwartete, da begriff er, dass seine Strafe überaus simpel
     ausfiel: er würde ewig sein.

Epilog
    … Die Mädchen lassen dich lieb grüßen. Sie haben hundertmal gefragt, warum du nicht mitgekommen bist, und sie sagen, sie hätten
     große Lust, dich zu sehen, und sie vermissen dich. Bald wirst du dir all unsere Urlaubsfotos ansehen müssen. Filme haben wir
     auch gemacht! Herzliche Grüße, Vera
     
    Karnak, 7.   Juni
     
    Der Flügelschlag eines Möwenschwarms auf der anderen Seite der Scheibe durchbrach die Stille in dem kleinen Büro. Cassandra
     stellte die Postkarte zurück auf den Platz, den sie ihr auf dem gläsernen Sims zugedacht hatte. Sie hatte den Maat-Tempel
     auf der Karte, die Vera ihr vor einer Woche geschickt hatte, stundenlang betrachtet, in der U-Bahn , im Wohnzimmer ihres neuen Heims. Ein ums andere Mal hatte sie sich die Stimme ihrer Freundin vorgestellt, die ihr erzählte,
     was für eine schöne Zeit sie alle in Ägypten verbrachten und wie sehr sie von Kairo und von der Wüste beeindruckt waren.
    Cassandra trat ans Fenster. Weit von hier, hinter der Scheibe, hinter dem Hafen von Barcelona, ja, hinter dem Horizont versuchten
     Vera und Isabel mit ihren Familien zu verarbeiten, was sie vor Monaten durchgestanden hatten. Ihr Schicksal hatte

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