Der 26. Stock
ausgezogen, nur die Schuhe hatte sie abgestreift, als
hätte ihr eine innere Stimme gesagt, dass sie dieses Motel am Stadtrand vielleicht jeden Moment fluchtartig würde verlassen
müssen. Wenigstens konnten die Mädchen schlafen. Sie trat ans Fenster und zog den Vorhang ein kleines Stück zurück.
Draußen lag in etwa zweihundert Metern Entfernung die Straße verlassen da, nur beleuchtet von der noch schwachen aufgehenden
Sonne. Doch was war das? Ein Wagen bog von der Straße ab und fuhr auf das Gebäude zu, in dem Vera die vergangenen zwanzig
Stunden verbracht hatte. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. Der Wagen hielt auf einem der Parkplätze vor dem Motel.
Veras Puls ging schneller. Wie paralysiert linste sie zwischen den Vorhängen hindurch. Sie spürte, wie ihre Lippen sich bewegten:
Sie betete still. Da öffnete sich die Wagentür, und ein Mann im langen Mantel und Sonnenbrille stieg aus. Vera war drauf und
dran, sich umzudrehen und ihre Töchter zu wecken, doch Sekunden später stieg aus der Beifahrertür eine junge, schlanke Blondine,
die lächelnd zu dem Mann ging, der den Arm um ihre Taille legte und sie dann zum Moteleingang führte.
Vera atmete auf. Ihre Stirn war schweißgebadet. Sie ging ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht. Dann warf sie einen Blick
in den Spiegel. Sie wirkte um zehn Jahre gealtert. Sie mussteetwas Schlaf bekommen, um am nächsten Tag fit zu sein. Bis jetzt war das Motel sicher gewesen, aber sie wusste, dass er früher
oder später wiederkommen würde. Ja, er würde wiederkommen, und sie musste in guter Verfassung sein, um wachsam bleiben zu
können. Sie legte sich wieder ins Bett, den Blick auf ihre Töchter geheftet. Wenn sie wenigstens die beiden in Sicherheit
gewusst hätte … Sie hätte sie bei Bekannten gelassen und wäre geflohen. Aber sie wusste nicht, was er vorhatte. Vielleicht wollte er ja
nur sie, doch wenn sie nicht achtgab und den Kindern ein Leid geschah, dann würde ihre Welt zusammenbrechen. Nichts wäre dann
mehr von Bedeutung. Ein paar Tränen liefen ihr die Wange hinab, aber sie hatte schon fast keine mehr. Lange Zeit hatte sie
sich vorgemacht, dass sie gut alleine zurechtkam, aber dieser Tage war ihre Überzeugung schwer erschüttert worden. Vera schloss
die Augen und erschauerte unter der Bettdecke. Plötzlich musste sie an Isabel denken. Ob sie wohl auf sie gehört hatte? Sie
musste eine Möglichkeit finden, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Sie musste sie noch einmal warnen, ihr sagen, dass sie abhauen
musste, dass sehr vieles davon abhing, dass es wenigstens für sie nicht zu spät war. Ohne es zu merken, sank sie in den Schlaf.
Fünfzehn Minuten später sprang Vera mit ihren Mädchen aus dem Badezimmerfenster, während jemand mit brutaler Gewalt die Zimmertür
einzutreten versuchte. Doch zum Glück war es nur ein Albtraum.
An Sonntagen kamen immer zahlreiche Besucher ins Krankenhaus. Wenn Isabel kurz zur Toilette musste, sah sie, wie sie mit Blumen
und Obstkörben über die Korridore irrten und die erstbeste Schwester nach dem Zimmer ihres Verwandten oder Freundes fragten.
Ansonsten wich Isabel aber nicht von Carlos’ Seite. Um ihren Bruder von dem beklemmenden Anblick der vielen Geräte abzulenken,
spielte sie mit ihm »Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst« und schwärmte ihm von Ägypten vor, den Pyramiden, den Märkten, der
unbarmherzigen Sonne, die auf das Nilufer niederbrannte … Als der Sonnenuntergang denHimmel rot färbte, kaufte sie für ihn an einem Stand vor dem Krankenhaus heiße Waffeln mit Karamelsoße.
Als sie zurückkam, trat gerade eine Pflegerin aus Carlos’ Zimmer. Sie hatte die Sonde der alten Frau im Bett daneben überprüft,
die nach einem Gehirnschlag aus einem Altenheim eingeliefert worden war. Einen Monat lag sie nun schon im Koma, und in all
der Zeit hatte sie niemand besucht.
»Wir müssen jetzt nach Hause«, erklärte Isabel. »Aber ich hätte eine Bitte: Könnten Sie mich sofort anrufen, falls Carlos … falls sich … etwas tut?«
»Machen Sie sich keine Sorgen.« Die Krankenschwester nickte ihr beruhigend zu. »Ihr Freund ist bei uns in guten Händen. Er
hat eine sehr kräftige Konstitution und braucht jetzt nichts als Ruhe. Frau Dr. Rodríguez geht davon aus, dass er bald aus dem Koma aufwacht, Sie werden sehen«, schloss sie und verschwand im Nebenzimmer.
Isabel war ihr dankbar für die aufmunternden Worte. Sicher würde binnen kurzer
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