Der 50-50 Killer
auch am Kabel ihres Kopfhörers rissen. Aber durchzukommen dauerte doch nur zwei Sekunden. Zwischen den Büschen war eine Lücke, und hier fand sie die Ursache des Geschreis wie einen vergessenen Picknickkorb im Matsch liegen. Das Kind war in eine rosa Decke gewickelt, lag auf dem Rücken und schrie voller Angst. Sein Gesicht sah aus wie eine kleine rote Rose.
»Oh Gott«, stieß Jodie hervor. »Du armes kleines Ding.« Schnell nahm sie ihren iRiver ab und stopfte ihn in die Manteltasche.
Die Situation war so unwirklich, dass sie sich praktisch in den Arm kneifen musste. So etwas gab es doch nur in Filmen oder Zeitungen, und doch passierte es ihr hier tatsächlich. Irgendein schrecklicher Mensch hatte dieses Kind der Kälte und dem Regen ausgesetzt. Jodie hatte sich nie für einen mütterlichen Typ gehalten und war nie besonders gut mit Babys zurechtgekommen, doch jetzt bückte sie sich, ohne zu zögern, um es aufzuheben.
Dabei fühlte sie ein Vibrieren an ihrer Hüfte. Das Telefon in ihrer Handtasche, wieder eine SMS.
Nicht jetzt, Scott, dachte sie und schaute zur Seite.
Aus dem Augenwinkel sah sie den Mann rechts von ihr in den Büschen. Er hatte völlig regungslos dagestanden, doch jetzt kam er plötzlich auf sie zu. Jodies erster Gedanke war: Ach, das ist der Vater, aber dann sah sie sein Gesicht, und die Signale, die in ihrem Kopf ankamen, änderten und verwirrten sich. Er trug eine rosa Teufelsmaske: große Augen, schwarze Haarsträhnen. Einen Moment lang war sie starr vor Schreck, und mehr war auch nicht nötig.
Der Mann hielt eine Flasche mit Insektenspray. Die Flüssigkeit schwappte hin und her, als er die Hand hob und ihr das Spray ins Gesicht sprühte. Nase und Mund gingen sofort zu, und sie kniff die Augen fest zusammen. Ammoniak. Alles brannte. Sie stürzte auf die Knie, hustete, streckte die Hände aus und tastete im Matsch umher. Und dann versetzte er ihr einen Tritt gegen den Kopf, und sie blieb auf der Seite liegen, wie betäubt von dieser Brutalität. Es gelang ihr, die Augen zu öffnen, und sie schaute plötzlich in den Himmel über sich. Ohne eigentlich etwas zu begreifen, sah sie, wie der Regen auf sie niederfiel und der graue Himmel flimmerte und weiß wurde.
3. Dezember
17 Stunden 25 Minuten bis Tagesanbruch
13:55 Uhr
Mark
Es war ein komisches Gefühl, das Kommando über mein eigenes Team zu übernehmen, so klein es auch war. Hauptsächlich deshalb, weil mir schmerzhaft klar war, dass die Buschtrommel bestimmt schon alles weitergetragen hatte, und die drei mir zugeteilten Männer wussten, dass dies mein erster Einsatz war. Diese Erkenntnis überfiel mich, als ich auf den Bus zuging, wo sie warteten, und meine Nerven waren so angespannt wie ein über den Weg gespannter Stolperdraht. Ich holte tief Luft und setzte mich darüber hinweg. Alles, was ich tun musste, war, ich selbst zu sein und zu improvisieren. Ich selbst zu sein müsste eigentlich reichen.
Glücklicherweise hatten die drei Kollegen, mit denen ich zusammenarbeitete, Davy, Ross und Bellerby, beschlossen, sich korrekt zu verhalten. Sie hörten aufmerksam zu, als ich den Fall zusammenfasste, die Bereiche angab, auf die wir uns konzentrieren mussten, und dann unsere Vierergruppe in zwei Paare aufteilte, die sich die beiden Straßenseiten vornehmen sollten. Außerdem sagte ich ihnen, dass ich für jeden Vorschlag von ihnen dankbar wäre, eine Bemerkung, die ich selbst in der Vergangenheit immer gern gehört hatte. Damit hoffte ich, die bittere Pille ein bisschen zu versüßen, bevor ich Mercers Anweisungen wiederholte.
»Achten Sie darauf, dass Ihre Kamera immer eingeschaltet ist.«
Sie sahen mich an, als sei ich blöd.
»Ich weiß, das ist selbstverständlich«, sagte ich. »Und ich weiß, dass das Standardmaßnahmen sind. Aber Mercer hat das ausdrücklich angeordnet.«
Sie schauten einander an, wenn auch so unauffällig wie möglich. Wieder merkte ich, dass hier allerhand ablief, in das eingeweiht zu werden ich einfach noch zu neu war. Diesmal machte es mir nichts aus. Egal, was der Grund sein mochte, sie begriffen zumindest, dass nicht ich hier der Klugscheißer war.
»Legen wir los.«
Die eigentliche Befragung von Haustür zu Haustür verlief so gut, wie zu erwarten war. Alle Leute, mit denen wir sprachen, schienen durch das Geschehen erschüttert, und sie waren sehr erpicht darauf, zu helfen, wo immer es ging. Im Allgemeinen war ihr Leben bisher ohne große Störungen verlaufen. Mord ist schließlich nicht
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