Der 50-50 Killer
ihn nie zu Gesicht bekommen oder mit ihm gesprochen, sie wussten tatsächlich nicht einmal seinen Namen. Sein Lieferwagen war manchmal vor dem Haus gesehen worden, manchmal nicht; die Vorhänge waren mal zurück-, mal vorgezogen, die Fenster beleuchtet und dann wieder dunkel gewesen. Er hatte genug getan, um sicher zu sein, dass er nicht auffallen würde.
Also trafen meine ersten Befürchtungen auf deprimierende Weise zu. Die Bewohner dieser Häuser waren junge, wohlsituierte Leute in gehobenen Berufen, die lediglich eine ordentliche, saubere Wohnung wollten, wo sie die paar Stunden verbringen konnten, in denen sie nicht im Büro waren. Wenn der Feierabend kam, waren diese Menschen wie Akten, die man in verschiedene Fächer eines Schranks zurückstellt. Der 50/50-Killer hätte für sein Versteck keinen besseren Ort wählen können.
Das sechste Haus, zu dem Ross und ich gingen, stand direkt gegenüber von Farmers Haus. Die Tür oben an der Treppe, die in die helle Küche führte, war offen, und ein Mädchen stand davor. Wir gingen zu ihr, wobei wir gigantische Fußstapfen in der dichter werdenden Schneedecke hinterließen. Sie war in einen dicken schwarzen Mantel gehüllt und stand an das Geländer gelehnt da. Man sah kaum mehr von ihr als eine Masse heller, zurückgebundener Dreadlocks, über einen Becher Kaffee gebeugt, den sie mit beiden Händen festhielt. Sie warf uns ein kurzes Lächeln zu, als wir vor ihr stehenblieben. Mein erster Gedanke war, dass sie viel zu jung war, um sich eine solche Wohnung leisten zu können, und dass ich offenbar in der falschen Branche war.
»Hallo.« Ich zeigte ihr meine Dienstmarke. »Ich bin Detective Mark Nelson. Das ist mein Kollege Ross. Es tut uns leid, Sie heute Abend zu stören, und ich hoffe, wir werden nicht zu viel von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen müssen.«
»Ist schon gut.«
»Dürfte ich Ihren Namen aufschreiben, bitte?«
»Megan Cook.«
»Nett, Sie kennenzulernen, Megan. Wie gesagt, es wird nicht lange dauern. Wir versuchen, etwas mehr über den Mann herauszufinden, der gegenüber von Ihnen gewohnt hat.«
Sie trank einen Schluck, und ich roch, dass es nicht Kaffee, sondern heiße Schokolade war.
»Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass ich Ihnen etwas sagen kann.«
»Na ja, wir haben schon mit einigen Ihrer Nachbarn gesprochen. Niemand scheint viel zu wissen.«
»Bestimmt weiß niemand viel. Ich glaube, ich habe in der ganzen Zeit, seit ich hier wohne, etwa mit drei meiner Nachbarn geredet. So eine Straße ist das hier eben nicht.«
»Ja, den Eindruck habe ich auch. Sie kennen also Mr. Farmer nicht?«
»Heißt er so? Nein, tut mir leid, Ich habe ihn nie kennen gelernt.«
»Sie haben niemals irgendwie mit ihm Kontakt gehabt?«
»Heute Vormittag hab ich ihn gesehen.« Sie zog die Nase kraus.
»Das zählt wohl nicht.«
»Doch, das nehme ich auf.« Mir wurde ein bisschen flau im Magen, aber ich tat mein Bestes, ruhig und gefasst zu klingen.
»Wo haben Sie ihn gesehen und wann ungefähr?«
Sie wies mit der Hand, die den Becher umfasst hielt, über die Straße. »Da drüben. Er kam und hat vor seinem Haus geparkt. Ich bin nicht sicher, um wie viel Uhr. Wahrscheinlich gegen elf? So ungefähr.«
»Okay.«
Nicht genau, aber immerhin. Ich rechnete nach. Farmer hatte CCL kurz nach acht angerufen und also wahrscheinlich Kevin Simpsons Haus gleich danach verlassen. Drei Stunden später parkte er vor seiner eigenen Wohnung oder jedenfalls vor einer seiner Wohnungen. Was hatte er in der Zwischenzeit gemacht?
»Sie haben gesehen, wie er ankam?«, fragte ich.
»Ja, ich habe am Fenster zur Straße gestanden und telefoniert.«
Megan sagte, sie sei als freiberufliche Webdesignerin tätig und arbeite meistens von zu Hause aus, eine Akte also, die nie ihr Schrankfach verließ. Die Tatsache, dass sie telefoniert hatte, war besonders nützlich. Wir konnten die aufgezeichneten Zeiten überprüfen und genau feststellen, wann sie am Fenster gestanden hatte.
»Und Sie haben ihn außer heute noch nie gesehen?«, fragte ich.
»Ich glaube nicht. Seinen Wagen hab ich ’n paarmal gesehen. Deshalb hab ich ihn wahrscheinlich heute Vormittag bemerkt. So sieht er also aus, habe ich mir gedacht, wissen Sie? So nach dem Motto: Wow, ich hab meinen Nachbarn gesehen.«
Ich gab ihr das Foto, das wir von der Zulassungsstelle hatten.
»Ja«, sagte sie und musterte es. »Das ist er.«
Mir wurde noch flauer im Magen. Ohne es auszusprechen, hatte ich Gregs Zweifel geteilt, ob das Foto
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