Der 50-50 Killer
wusste sie, dass sie sich wahrscheinlich bei mindestens der Hälfte der vierzig oder fünfzig Flaschen da unten erinnern konnte, wann und wo sie sie gekauft hatten. Das hatte etwas Tröstliches. In mancher Hinsicht war der Wein ein persönliches Protokoll ihrer gemeinsamen Geschichte als Paar. Es schien ihr passend, dass sie heute Nacht hier etwas Trost finden sollte.
4. Dezember
5 Stunden 50 Minuten bis Tagesanbruch
2:30 Uhr
Mark
Dekompression.
Halb drei Uhr morgens, und wieder wanderte ich durch die Korridore des Krankenhauses. Genauer gesagt, ich versuchte, das mehrmalige Abbiegen nach rechts und links, das ich gespeichert hatte, nun zurückzuverfolgen und den Aufzug zum Erdgeschoss zu finden, versagte dabei jedoch kläglich. Die Klinik war ein Labyrinth. Eigentlich hätte ich mich am liebsten auf eine Krankentrage gelegt und wäre eingeschlafen. Entweder das oder eine von diesen Tragen durch den Korridor kicken, bis das Drecksding in seine Einzelteile zerfiel.
Ich fand einen überfüllten Aufzug, der nach unten fuhr, quetschte mich hinein und holte tief Luft, als sich die Türen zuschoben.
Ich war wütend auf mich selbst, beruhigte mich aber jetzt allmählich. Mir war klar, was mit Scott geschehen war. Meine Aufgabe war es, eine persönliche Beziehung aufzubauen und nachzufühlen, was in ihm vorging, ein wenig in seine Psyche einzudringen. Das hatte ich getan, nur etwas zu intensiv. Und das Ergebnis war, dass ich mir die Finger verbrannt hatte.
Irgendwo tief in meinem Inneren war ich in Gedanken noch mehr als sonst bei Lise. Zum Teil lag es auch an diesem besonderen Tag, meinem ersten Arbeitstag als Detective. Doch es war mehr als das. Es hatte auch mit dieser Ermittlung zu tun. Als ich mir vorher das Protokoll der Befragung von Daniel Roseneil angesehen hatte, hätte ich ihm keinen Vorwurf gemacht, dass er sich nicht erinnerte. Und wie hätte ich das auch tun können? Wenn ich jetzt Scott betrachtete, den Überlebenden, geriet ich in Gefahr, mich selbst zu sehen. Ich musste mich davor in Acht nehmen. Denn solange ich in seinem Zimmer war, musste ich mir einreden, dass Jodie noch am Leben war, aber im Grunde wusste ich, dass das wahrscheinlich nicht zutraf. Wenn ich mir zu viel Einfühlsamkeit erlaubte, zu viele Gedanken an Lise … ich musste einfach auf der Hut sein. Nicht nur wegen Scott, sondern auch meinetwegen.
Also: Den Druck wegnehmen. Ich stellte mir den Fahrstuhl als eine Art Luftschacht vor, und dass ich diese Gefühle im oberen Stockwerk zurückgelassen hätte und sie auf dem Weg nach oben zum nächsten Gespräch mit Scott wieder mitnehmen würde.
Erdgeschoss.
Ich trat mit der Menge hinaus, bog rechts ab, machte dann aber kehrt und ging nach links weiter.
Der Wegbeschreibung von Doktor Li folgend, fand ich Greg und Mercer in einem alten Umkleideraum im hinteren Teil des Krankenhauses. Dieser Teil des Gebäudes wurde gerade ausgeräumt und renoviert, und viele der Korridore waren abgesperrt und mit grauen, staubigen Plastikbahnen verhängt. Die Deckenbeleuchtung flackerte etwas und summte ein bisschen lauter. Fast sofort bekam ich davon Kopfschmerzen.
Der Umkleideraum, den man uns zur Verfügung gestellt hatte, war schon halb abgerissen. Alte, zwei Meter hohe Spinde waren von den Wänden abmontiert und in traurigen Stapeln am hinteren Ende aufgetürmt worden. Das Licht der Neonbeleuchtung war so grell wie die Lampen an einem Tatort.
Mitten drin saß Mercer auf einem alten Plastikstuhl. Er sah aus wie etwas, das man mit dem Rest der Einrichtung weggeworfen hatte. Das Licht auf seinem Gesicht ließ die Partie um die Augen hohl und die Haut kreidebleich erscheinen, hob die typischen Unzulänglichkeiten des Alters hervor und ließ ihn noch älter erscheinen, als er war. Er starrte mit ausdruckslosem Gesicht in die Ferne. Ich konnte unmöglich sagen, ob er sich besonders auf etwas konzentrierte oder an überhaupt nichts dachte.
Greg jedoch war auf jeden Fall fleißig gewesen. Eine eindrucksvolle Menge Computertechnik war aus dem Kleinbus ausgeladen und auf drei langen Tischen aufgestellt worden. Auf jedem standen ein Monitor, an drei Laptops angeschlossen, ein Drucker, der auch als Faxgerät diente, und jede Menge Aufnahmegeräte. Der Strom kam über eine Kabeltrommel von draußen. Denn hier gab es keine Steckdosen an den Wänden, nur alte blaue Rohre, die so stabil aussahen, dass man wahrscheinlich darauf stehen konnte.
Der Laptop in der Mitte war mit dem virtuellen
Weitere Kostenlose Bücher