Der 50-50 Killer
nicht mehr viel von dem, was passiert ist. Es schmerzt ihn, wenn er versucht, sich zu erinnern.«
Mercer fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
»Wegen der Folter?«
»Zum Teil deshalb. Aber er blendet mehr aus als nur die Verletzungen. Als er am Ende über Jodie gesprochen hat, ist er ziemlich unruhig geworden. Da habe ich beschlossen, das Gespräch eine Weile zu unterbrechen.«
»Er erinnert sich nicht, dass er aus dem Wald geflohen ist?«
»Nein, eigentlich nicht. Diese Erinnerungen sind besonders heikel für ihn. Wenn er sich daran erinnert, dass er durch den Wald gelaufen ist, kommt er näher an das heran, was unmittelbar davor passiert ist.«
»Aber gerade das brauchen wir doch, oder?« Mercer klang überrascht. »Ich weiß, es ist nicht angenehm, aber wenn er sich an irgendeinen Orientierungspunkt im Wald erinnern kann, hilft uns das, seine Freundin zu finden.«
Ich schüttelte den Kopf. Mercer hatte recht, aber Scott war hier auch ein Opfer. Ich erinnerte mich, wie er geweint hatte und der Rollladen runtergegangen war. Ihn zu drängen und zu einem Ergebnis zu kommen wäre schlimm genug. Höchstwahrscheinlich aber würde man mit Drängen nicht einmal etwas erreichen.
»Man muss ihn behutsam behandeln«, sagte ich. »Wenn wir zu schnell vorgehen, könnten wir ihn ganz verlieren.«
»Ja, aber wenn wir zu langsam vorgehen, verlieren wir mit Sicherheit sie.«
Wahrscheinlich haben wir sie schon verloren.
»Ich werde tun, was ich kann.«
Mercer nickte, als hätte ich ihm zugestimmt.
»Ich weiß, dass es unangenehm ist«, sagte er. »Und wahrscheinlich nicht gerade das, was er jetzt braucht. Aber es ist notwendig. Sie müssen ihn auch zu Kevin Simpson befragen. Finden Sie heraus, ob er weiß, wer das ist und was für eine Beziehung er zu Jodie hat, abgesehen von dem, was bekannt ist.«
Ich nickte langsam. So aufgeladen, wie Scott im Augenblick war, wusste ich nicht, wie er reagieren würde, wenn er zu allem anderen noch argwöhnte, dass Jodie eine Affäre gehabt hatte. Ich stellte es mir sehr schlimm vor. Aber ich konnte keine weiteren Einwände erheben, ohne gegen den Kern von Mercers Argumentation anzugehen, dass Jodie noch am Leben sei. Sie zu retten war das Einzige, was ihm im Moment wichtig war.
Greg nutzte die Gesprächspause, um sich leise zu räuspern. Ich warf einen Blick hinüber und sah, dass der dritte Laptop jetzt funktionierte.
»Jetzt geht’s in den Wald«, sagte er.
Auf diese Stelle hatte ich mich unter anderem dadurch vorbereitet, dass ich im Voraus so viel über die Stadt gelesen hatte, wie ich konnte. Ich hatte einen Notizblock, einen Stadtführer und mehrere Broschüren mit allerhand nützlichen Informationen über den Ort gekauft und Karten und Pläne studiert, bis ich mit geschlossenen Augen vor mir sah, wie die Stadt angelegt war. Der Wald verlief ungefähr zehn Meilen am oberen Rand der Stadt entlang und erstreckte sich weiter nach Norden. Wenn man von der Ringstraße geradeaus hineinging, kam man etwa vier Meilen durch bewaldete Hügel, bevor man die Berge erreichte.
Vierzig Quadratmeilen eines alten Waldgeländes, das man als Naturschutzgebiet ausgewiesen hatte, obwohl es bei weitem nicht so freundlich und offen war, wie man aus dem Namen schließen mochte. Der Wald war dicht, an manchen Stellen sogar undurchdringlich. Nahe der Stadt schlängelten sich am Rand ein paar Naturpfade hinein, aber keiner weiter als eine Meile.
Manche Regionen der Erde sucht man auf, um in die Stille zu entfliehen, sich zu entspannen und einmal alles hinter sich zu lassen. Aber es gibt auch andere, die gerade wegen dieser Beschaffenheit gefährlich sind, und die Wälder nördlich unserer Stadt wurden im Allgemeinen eher für einen stillen Ort der letzteren Art gehalten. Es gab dort Leute, die aus persönlichen Gründen von der Einsamkeit angezogen wurden. Obdachlose, die sonst nirgendwo hinkonnten. Kriminelle, die ihre geheimen Aktivitäten dort abwickeln wollten.
Es gab sogar Gerüchte, dass man in der Nähe der Berge auf Separatisten stoßen konnte, die dort in kleinen Gruppen für sich lebten. Sicher würde man ihnen als wehrloser, zivilisierter Mensch nicht gern bei einem Spaziergang begegnen. Es wäre, als spazierte man tief in einen Zoo hinein und merkte erst dann, dass die Käfige keine Gitter hatten.
Es war ein Gebiet, das selbst mittags an einem sonnigen Tag nicht leicht zu durchsuchen wäre. Aber um halb drei Uhr morgens würde es bei diesem Wetter mehr oder weniger unmöglich
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