Der 8. Februar (German Edition)
denn ihr Baby war bei uns. Beim nächsten Halt kam die Mutter wieder zu unserem Waggon gerannt, da sie glücklicherweise noch am Zugende hatte aufspringen können und von den Mitreisenden hineingezogen worden war. Alle Vertriebenen hatten einen Riesendurst und manche schliefen vor Müdigkeit ein, ohne sich für Stunden zu rühren. Es roch etwas nach Vieh in unserem Waggon, aber wir wussten, es war nicht zu ändern. Wir wollten überleben. Nur überleben.
Wir kamen in Kohlfurt an und mussten alle aussteigen. Gertrud Schade, eine unserer Arbeiterinnen aus der Gerberei, machte ein Lagerfeuer neben den Gleisen, wir holten Wasser in einem Topf und setzten ihn auf. In der Zwischenzeit fanden Gertrud und ich wilden Huflattich, aus dem wir einen Tee kochen konnten. Sie hatte zu unserer Überraschung etwas Zucker retten können und jeder bekam einen kleinen Löffel davon in seine Tasse. Ich kann mir vorstellen, dass sie den Zucker einfach mitgenommen hatte, als sie für eine Zeit als Haus-angestellte arbeitete. Die Häuser waren nun leer und niemand sonst hatte Zucker.
Alle Vertriebenen mussten sich in die Reihe stellen und wurden registriert. Wer eine Geburtsurkunde hatte, musste sie vorzeigen, die meisten hatten aber keine. Unsere Familie hatte keine und so sagten wir nur unsere Namen. Die Registrierung wurde von deutschen Zivilisten durchgeführt, englische Truppen waren in Kohlfurt stationiert und überwachten den Ablauf. Danach kam es zur Entlausung, die wohl mehr als menschenunwürdig war. Die Köpfe wurden mit einem weißen Pulver eingestäubt, was allein schon sehr unwirklich aussah. Dann wurden Röcke hochgehoben und das Pulver wurde mit einem Blasebalg in die Unterwäsche geblasen. Als die Reihe an uns war, sagte Mama laut und bestimmt:
„Wir haben keine Läuse und auch keine Wanzen!“
Mit ihr war an diesem Tag nicht zu spaßen. Sie hatte schon soviel mitgemacht, dass auch ihre Geduld einmal zu Ende war. Der Beamte konnte das wohl spüren und sagte nichts dazu. Daraufhin wurden nur unsere Köpfe behandelt. Später bekamen wir etwas zu essen und zwar Brot und Dosenwurst, unsere Tassen füllten wir mit Wasser. Am Abend kam der Aufruf, sich für die Weiterreise fertigzumachen. Wir stellten uns also wieder auf, das Gepäck war im Waggon geblieben. Aus einem unerklärlichen Grund stimmte jemand das Schlesierlied an und alle, die noch konnten, sangen mit.
Kehr ich einst zur Heimat wieder,
Früh am Morgen, wenn die Sonn' aufgeht.
Schau ich dann ins Tal hernieder,
Wo vor einer Tür ein Mädchen steht.
Kehrreim:
Da seufzt sie still, ja still und flüstert leise:
Mein Schlesierland, mein Heimatland,
So von Natur, Natur in alter Weise,
Wir sehn uns wieder, mein Schlesierland,
Wir sehn uns wieder am Oderstrand.
In dem Schatten einer Eiche,
Ja, da gab ich ihr den Abschiedskuß.
Schatz, ich kann nicht bei dir bleiben,
Weil, ja weil ich von dir scheiden muß.
Kehrreim
Liebes Mädchen, laß das Weinen,
Liebes Mädchen, laß das Weinen sein.
Wenn die Rosen wieder blühen,
Ja dann kehr ich wieder bei dir ein.
Kehrreim
Nach der ersten Strophe wurden wir jedoch von einem englischen Offizier unterbrochen, der uns durch einen Dolmetscher sagen ließ:
„Hört auf zu singen! Man singt nicht, wenn man aus der Heimat vertrieben wird!“
Wir hatten dann zuviel Angst, um weiterzusingen. Die plötzliche Stille erinnerte uns daran, dass wir keine Rechte hatten und nichts wert waren. Die Erwachsenen hatte es vielleicht noch mehr getroffen als uns Kinder, das ist heute schwer zu beurteilen.
Auf der Fahrt kamen wir an Bahnwärterhäusern vorbei, und ich sah Blumen in den Vorgärten, aber auch rot-weiße und gelb-weiße Flaggen. Ich erschrak und dachte, sind wir immer noch in dem neuen polnischen Gebiet? Dann fiel mir aber ein, dass es sich um Kirchenfahnen handelte, wir hatten einen Feiertag und es muss ein Sonntag gewesen sein.
Im gleichen Waggon ging die Reise weiter und wir erreichten die Stadt Uelzen am nächsten Morgen. Kurz nachdem der Zug angehalten hatte, wurden die Türen aufgeschoben. Dieses Mal waren wir in einem Bahnhof und der Ausstieg war viel bequemer. Wir alle nahmen unser Gepäck, und ein paar Deutsche führten uns in ein Flüchtlingslager etwas außerhalb der Stadt. Zuvor hatte dieses Lager als Unterkunft für Fremdarbeiter gedient. Es war sauber und ordentlich, die Schlafräume waren mit eisernen Doppelstockbetten ausgestattet und -ganz wichtig-, beinahe luxuriös,
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