Der 8. Februar (German Edition)
sollte, eingearbeitet. Das Buch hatte den Titel „Unser Mädel“ und ich hatte es in dem von Justs verlassenen Haus gefunden. Aus Mehl und Wasser stellten wir einen Leim her, legten ein paar Geldnoten hinein und klebten dann immer zwei Seiten zusammen. Was an Geld übrigblieb wurde in selbstgemachten Damenbinden, die wir uns umbanden, versteckt. Ich fand auch noch Gisels evangelisches Gesangbuch und nahm es in meinem Handgepäck mit.
Schlafen konnte ich in dieser Nacht nicht besonders gut, den anderen ging es wohl genauso. Jedes kleine Geräusch weckte mich auf und ich war immer bereit, aus dem Bett zu springen. Nach so einer langen Zeit von nächtlichen Überfällen entwickelt man einen Sinn für drohende Gefahr. Am Morgen des 1.7.1946 aßen wir noch schnell ein Brot mit Sirup und tranken dazu eine Tasse Kaffee aus selbstgerösteten Getreidekörnern. Mama öffnete eine der Dosen Milch, die sie im Tausch gegen einen elektrischen Backofen bei einer polnischen Nachbarin bekommen hatte.Ich hatte gemischte Gefühle und es ging mir schlecht. Der Abschied von unserem Haus fiel mir einerseits sehr schwer, andererseits wollte ich nur weg um das Elend hinter mir lassen zu können. Ich war traurig und mehr als enttäuscht von der Welt der Erwachsenen, aber ich war auch froh, aus diesem Alptraum gerettet zu werden. Persönlichen Besitz hatte ich schon lange keinen mehr und von daher brauchte ich nicht lange zu überlegen, was ich mitnehmen wollte und was ich zurücklassen musste. Das letzte was ich hatte, war ein silberner Kinderlöffel mit meinen Initialen eingraviert. Schnell steckte ich ihn in meine Tasche. Meine Gedanken waren bei meinem Vater, der ja dann nicht wissen würde, wohin wir gezogen waren. Wie sollte er uns finden? Lebte er noch? Er hatte uns eingeschärft, falls wir uns verlieren sollten, uns an die Adresse seines Kommissionärs in Leipzig zu wenden: R. Max Schulze, Leipzig C1, Brühl 68. Voraussetzung war allerdings, dass er dann noch da wohnte. Und wenn nicht? Den Gedanken, meinen Vater nicht wiederzusehen, wollte ich sofort wieder loswerden, da ein Leben ohne Papa für mich undenkbar war. Dieser Alptraum verfolgte mich noch eine ganze Weile. Mama sprach mir Mut zu und ich wusste, dass ich ihr vertrauen konnte. Unsere kleine Familie machte sich auf den Weg. Ein letztes Mal blickte ich tränenlos zu unserem Haus zurück, niemand von uns weinte. Hier hatte ich so viel erlebt, hier hatten wir gespielt, hier hatte ich Unrecht und Tod gesehen. Ich hatte eine Menge Fragen, für die es keine Antworten gab. Wo werden wir leben? Werden die neuen Leute gut zu uns sein? Kann ich wieder in eine Schule gehen? Gibt es ein Leben ohne Angst? Mir wurde es sehr unheimlich.
Wir machten uns also auf nach Liegnitz, denn Heidau hatte keinen eigenen Bahnhof. Die gesamte deutsche Bevölkerung des Dorfes wurde gleichzeitig ausgewiesen, und so bewegte sich eine große Gruppe westwärts. Wir zogen uns jeder zwei Garnituren Unterwäsche an, um sie nicht in den Taschen tragen zu müssen. Die Griffe meiner Tasche schnitten mir in die Hand, zusätzlich trug ich noch einen gusseisernen Kochtopf, der in keine Tasche mehr passte. Da sich die Griffe nicht zum langen Tragen eigneten, fingen die Schmerzen in den Fingern sofort an. Nach ungefähr zweihundert Metern wurde er mir zu schwer und Mama sagte zu mir, ich solle ihn in den Graben werfen. Ohne zu überlegen ließ ich ihn fallen und spürte etwas Erleichterung. Trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, die zwei Taschen bis nach Liegnitz zu tragen. In der linken Tasche befanden sich ein Laib Brot, ein Teller, eine Tasse, ein Essbesteck, einmal Wäsche zum Wechseln, eine blaue Stoffjacke und zwei Handtücher. In der rechten hatte ich ein zusammengerolltes Federbett und ein Kopfkissen, wobei alles zweimal bezogen war. Mama hatte schon zuvor einen Teil der Daunen herausgenommen, um mir das Tragen zu erleichtern. Sie selbst trug unter anderem noch eine Teekanne, eine gestickte Tischdecke, zwei Sommerkleider und eine weiße Jacke von Papa, das einzige seiner Kleidungsstücke, das noch übriggeblieben war. Schweigend liefen wir neben Mama her, jeder in Gedanken versunken. Meine Schuhe würden nicht mehr lange halten und ich hatte keine Ahnung, wie ich neue bekommen könnte. Meine Knie taten mir weh, denn am Abend zuvor war ich hingefallen bei dem Versuch, noch etwas Milch zu organisieren, wobei ich beinahe vom polnischen Bauern erwischt worden war. Ich musste ohne Milch in die
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