Der 8. Tag
Leute plötzlich in seiner Welt machen. Es muss erst die anderen Dinge und Menschen begreifen. Das Wissen darum kommt nicht automatisch.« Tessa trank einen Schluck Kaffee, schlug ihre Augen einen Moment nieder und schaute dann zu Helen hinüber. »Ich habe mich über Kinder informiert.«
Helen begegnete ihrem Blick gleichmütig. Nach einem Moment sagte sie: »Mir wäre es doch lieber, wenn du mal mit Peter sprechen würdest.«
Peter war ein distinguierter Psychoanalytiker, der seine Praxis aufgegeben hatte um Bücher zu schreiben und inzwischen ein emeritiertes Mitglied von Clives Verbindung war.
Tessa stellte ihre Tasse ab und war der Aussicht überdrüssig diesen Kampf erneut austragen zu müssen.
»Was soll das bringen? Es würde nur bedeuten, dass noch jemand weiß, was vorgeht, und das ist keine gute Idee.«
Sie brach ab, als sie Helens mitfühlende und echte Besorgnis, mit der sie sie anblickte, bemerkte. Sie streckte ihren Arm aus, nahm die Hand ihrer Freundin und drückte diese fest, als wolle sie damit auf physischer Ebene die Wichtigkeit dessen, was sie sagen wollte, unterstreichen.
»Hör mir zu. Ich bin weder verrückt noch unausgeglichen.
Ich habe dir und Clive vertraut. Also müsst auch ihr mir vertrauen.«
»Natürlich vertrauen wir dir.« Helen sagte dies so, als ob es gar keine andere Möglichkeit gäbe.
»Danke. Es gibt etwas, was ich dich fragen möchte, und ich will nicht, dass du dahinter ein Anzeichen von Krankheit vermutest. Es ist einfach eine Frage, die ich beantwortet haben möchte.«
»Welche?«
»Es geht um meine Fruchtwasseruntersuchung. Hast du jemals das Ergebnis bekommen?«
Helen wurde von dieser Frage überrascht. Sie warf sich sofort vor nicht darauf vorbereitet gewesen zu sein. Sie hätte wissen müssen, dass Tessa, so wie sie sie kannte, bestimmt danach fragen würde.
»Ja«, meinte sie zögernd, »eigentlich müssten sie… «
»Sie müssten?« Tessas Kopf war zur Seite geneigt und ihre Haltung drückte, wie Helen wusste, extremen Unglauben aus, der fast schon an Verachtung grenzte.
»In Ordnung. Wir haben sie bekommen. Aber mal ehrlich, ich glaube wirklich nicht, dass das noch eine Rolle spielt.«
»Ich will es aber wissen. Wäre das Kind gesund gewesen?«
Helen antwortete nicht sofort. In ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander, sie wusste nicht, was sie sagen sollte, obwohl ihr klar war, dass sie am Ende doch die Wahrheit sagen würde. So war es schon immer in ihrer Freundschaft gewesen und es würde sich auch jetzt nicht ändern.
»Ja.«
»War es ein Mädchen oder ein Junge?«
»Tessa… «
»Bitte?«
»Ein Junge.«
Helen war sich nicht sicher, ob sich die Augen ihrer Freun
din mit Tränen füllten, denn es war durch ihre eigenen Tränen hindurch schwer zu sagen. Sie verfluchte sich innerlich. Was war sie nur für eine Ärztin, dass sie so emotional reagierte? Sie hob die Hand um sich über die Augen zu wischen, doch wurde diese an ihre Brust gepresst, als Tessa um den Tisch herumkam und sie in die Arme nahm. Tessa sagte nichts, bewegte sich nicht, schmiegte sich einfach an sie, weil sie jemanden brauchte, an dem sie sich festhalten konnte. Helen legte ihr ihren freien Arm um die Schultern und hielt sie fest.
Nach einiger Zeit löste sich Tessa aus der Umarmung und beugte sich so weit zurück, dass sie Helen in die Augen sehen konnte.
»Danke«, sagte sie.
Helen war sich nicht sicher, wofür ihr gedankt wurde.
Nicht dass dies eine Rolle gespielt hätte. Sie strich ihrer Freundin zärtlich über die Wange.
»Es gibt keinen Grund, warum du nicht wieder ein perfektes, gesundes Kind haben kannst.«
»Ja.« Impulsiv legte sie ihre Arme um Helen und zog sie an sich. Es war eine Geste wie bei einem Kind, das Beruhigung und Zuneigung braucht. Irgendwo begann ein Telefon zu klingeln. Tessa löste sich von Helen.
»Ich muss gehen. Und du musst zu deiner Sprechstunde.«
»Ruf mich später an, aber ganz sicher.«
»Das werde ich.«
Noch ein letzter, schneller Kuss auf die Wange, dann ging Tessa durch die Tür und die Einfahrt hinab, wo sie ihren Wagen geparkt hatte.
Es war ein grauer, nebliger Morgen und man hatte den Eindruck, dass Wassertröpfchen in der Luft hingen. Am anderen Ende des Gartens trafen die ersten Patienten, in Mäntel und Schals gehüllt den schmalen Weg hinaufkommend ein. Ein paar davon hatten Schirme und sie alle waren von Sorgen und Selbstmitleid gebeugt.
»Der Mensch ist das Maß aller Dinge«, kam ihr von
irgendwoher ins
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