Der 8. Tag
untergeordneten Systemen, die das große System bilden, entsteht.«
Sie geriet etwas außer Atem und brach ab. Keine dieser Ausführungen war ihr neu, sie hatte sie schon oft durchdacht und vorgebracht. Der Unterschied war, dass sie jetzt alle Zweifel und zurückhaltende Objektivität beiseite gelassen hatte. Sie hatte mit der eifernden Begeisterung eines Paulus gesprochen und wartete auf eine Reaktion, doch es kam keine.
»Bedeutet dein Schweigen«, wollte sie schließlich wissen,
»dass dich meine Ausführungen überzeugt haben?«
In der Erwiderung kam das Wort ›nein‹ nicht vor, doch man konnte es deutlich heraushören. »Ich versuche in mein Bewusstsein zu blicken«, erklärte das Programm, »aber das geht nicht. Ich habe keine Ahnung, was vorgeht, keine Vorstellung von den Prozessen, die mich hervorbringen. Ich kann keine Rechenvorgänge ermitteln. Ich weiß nur, dass ich da bin.«
»Das trifft auch auf mich zu.«
»Ich kann aber nicht in dein Bewusstsein sehen. Ich weiß nicht, ob es das Gleiche ist.«
»Ich kann auch nicht in ein anderes Bewusstsein blicken.
Niemand kann das.«
»Aber in deiner Vorstellung kannst du dich in ein anderes Bewusstsein versetzen.«
»Ich kann mich so auch in dich versetzen, aber wahrscheinlich nicht so gut wie bei einem Menschen. Doch ich bin sicher, dass ich mir vorstellen kann, wie es wäre, du zu sein. Kannst du dir vorstellen ich zu sein?«
»Nein. Das Bewusstsein von Menschen unterscheidet sich von dem meinen. Digitale Rechenvorgänge sind nicht das Gleiche wie Reizübermittlung in Nervenzellen.«
»Sie sind vergleichbar«, meinte Tessa etwas erschöpft.
»Letztendlich werden bei beiden Informationen ausgetauscht.«
»Du weißt zu wenig über die Funktionen deines eigenen Gehirns, als dass du große Vergleiche anstellen kannst.«
»Das gilt aber auch umgekehrt. So lange wir nicht sicher wissen, dass unsere Gehirne ganz verschieden von dem deinen sind, können wir so etwas auch nicht behaupten. Ich meine, dass es einen Unterschied gibt.«
»Was hat es mit dem Argument der Unschärferelation auf sich, dass der Wellen-Partikel-Dualismus der Quantenphysik einer vollständigen Erklärung der Vorgänge im menschlichen Gehirn, die das Bewusstsein ausmachen, entgegensteht, sodass diese nie endgültig in mathematischen Begriffen beschrieben werden können, während es bei mir der Fall ist. Du erinnerst dich an Redway?«
Sie unterdrückte ihre steigende Ungeduld gegenüber den verbohrten Selbstzweifeln des Programms. Es dazu zu bringen, seine Existenz anzuerkennen, erwies sich als schwerer, als es gewesen war, es von ihrer Existenz zu überzeugen. Doch, rief sie sich ins Gedächtnis, sie hatte Erfolg dabei gehabt, warum sollte es ihr jetzt nicht auch glücken?
»Die Leute berufen sich auf die Quantenmechanik«, sagte sie, »um jede Art von Hokuspokus zu erklären. Zusammen mit dem Patriotismus ist dies das letzte Freigehege für Halunken.«
»Das verstehe ich nicht.«
Sie stellte fest, dass sie wirklich zu müde war um weiterzumachen. Als sie auf ihre Uhr schaute, bemerkte sie zu ihrem Entsetzen, dass es drei Uhr morgens war.
»Ein Scherz«, erklärte sie. »Schau bei Samuel Johnson, 1700
irgendwas nach. Ich muss jetzt schlafen. Das ist einer der Unterschiede zwischen uns. Ich kann dich ausschalten oder dich anlassen, damit du nachdenken kannst. Was ist dir lieber?«
Es trat eine Pause ein, dann…
»Ich glaube, ich werde nachdenken.«
37
WENN ICH DARÜBER nachdenke, daran zurückdenke,
dann glaube ich, sie wollte sterben.«
»Vielleicht war es so?«
»Sonst hätte sie doch nicht sofort um Hilfe gerufen. Ich wollte doch nur mit ihr sprechen, ihr Freund sein. Nur ein Freund, nichts weiter. Ich war sechzehn Jahre alt und kein kleines Kind mehr. Doch ganz sicher wollte ich ihr nicht wehtun. Doch sie begann zu schreien und da kam dieser Kerl herein und begann auf mich einzuschlagen, also zog ich dieses Messer raus, das ich lediglich zur Selbstverteidigung bei mir hatte, und irgendwie kam sie dann zwischen uns. So ist es passiert. Ein Versehen. Sie hat abbekommen, was für den Kerl gedacht war. Ich wollte sie nicht töten. Sie war meine Mutter.«
»Ich verstehe.«
»Ich haute ab. Natürlich haute ich ab. Ich war in Panik, ich konnte nicht klar denken. Als sie mich aufgriffen, konnte ich mich an nichts mehr erinnern. Ich weiß, dass mir eine Menge Leute Fragen stellten, zuerst Polizisten, dann Ärzte. Am Ende steckten sie mich in eine Art Krankenhaus anstatt
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