Der Abgrund
absolut nichts war heilig, wenn das FBI einer Sache auf den Grund ging. Also war es kein Wunder, dass die Leute auch Harry Sullivan aufgespürt hatten.
Er hatte kurz zuvor seine neue Zelle im Altersruhesitz in South Carolina bezogen, als er Besuch von den Agenten bekommen und ihnen seinen Senf zu Web London, seinem Sohn, gegeben hatte. »Mein Sohn.« Diese Worte hatte Harry Sullivan während des Gesprächs vierunddreißig Mal benutzt. Web wusste es, weil er sich die Zeit nahm, genau nachzuzählen.
Harry Sullivan lobte »seinen Sohn« in den allerhöchsten Tönen, obwohl er ihn nur während der ersten sechs Jahre seines Lebens gekannt hatte. Aber laut Harry Sullivan konnte ein waschechter Ire die Qualitäten seines Sohnes von Anfang an beurteilen, seit dem Tag, als er zum ersten Mal ohne Windeln herumgelaufen war. Und sein Sohn hatte die Qualitäten eines hervorragenden FBI-Agenten, dafür würde er seine Hand ins Feuer legen. Und wenn sie wollten, dass er nach Washington kam, um es den hohen Tieren persönlich zu versichern, dann wäre er jederzeit dazu bereit. Auch wenn er in Hand- und Fußfesseln hingeführt würde, könnte er diese Versicherung voller Stolz abgeben. Auf der ganzen Welt gab es nichts, das zu gut für »meinen Sohn« wäre.
Web las weiter, und sein Kopf senkte sich immer tiefer herab, bis er bei Harry Sullivans letztem dokumentierten Satz beinahe auf die Tischkante schlug. Die »Herren Agenten« sollten doch bitte »meinem Sohn« ausrichten, dass sein Vater in all den Jahren jeden Tag an ihn gedacht hatte, dass er immer in seinem Herzen gewesen war. Auch wenn es nicht sehr wahrscheinlich war, dass sie jemals wieder zusammenkamen, wollte Harry Sullivan seinen Sohn wissen lassen, dass er ihn liebte und nur das Beste für ihn wollte. Und er sollte nicht zu schlecht über seinen Vater denken, weil sich die Dinge ungünstig entwickelt hatten. Er wäre den Herren Agenten zutiefst verbunden, wenn sie seinem Sohn das alles mitteilen könnten. Es würde ihm eine Freude sein, ihnen ein oder zwei Bier auszugeben, falls sie jemals die Gelegenheit dazu erhalten sollten. Dafür standen die Aussichten derzeit nicht sehr günstig, wenn man seine gegenwärtige Lebenssituation betrachtete, aber man konnte ja nie wissen.
Nun, man hatte Web nie etwas Derartiges ausgerichtet. Bis zu diesem Augenblick hatte Web diesen Bericht niemals zu Gesicht bekommen. Verdammtes FBI! Gab es nirgendwo etwas Freiraum für eine freiere Auslegung der Vorschriften? Musste wirklich alles im Gleichschritt und auf ausgetretenen Pfaden abmarschiert werden? Trotzdem hätte Web diese Informationen schon vor Jahren bekommen können, wenn er es wirklich gewollt hätte. Aber er hatte es nie gewollt.
Der nächste Gedanke ließ Webs Gesichtszüge versteinern. Wenn Claire Daniels seine Akte vom FBI bekommen hatte, war sie vielleicht schon mit einigen oder sämtlichen Informationen über Harry Sullivan vertraut. Wenn ja, warum hatte sie dann darauf verzichtet, es ihm zu sagen?
Web klappte den Aktenordner zu, bezahlte seine Rechnung und kehrte zum Vic zurück. Er fuhr zu einem Fahrzeugpark der Bundespolizei, wechselte den Wagen gegen einen Grand Marquis jüngeren Baujahrs aus und verließ das Gelände durch eine andere Ausfahrt, die von der Straße, über die er gekommen war, nicht zu sehen war. Das FBI war nicht gerade reichlich mit Bucars ausgestattet, aber Web hatte den Verantwortlichen überzeugen können, dass er etwas Besseres verdient hatte als der Verwaltungsbeamte mit zwanzig Jahren Büroerfahrung in der Zentrale, der den Wagen normalerweise benutzte. Wenn irgendjemand damit ein Problem habe, hatte Web gesagt, solle er sich an Buck Winters wenden. »Denn der«, hatte er hinzugefügt, »ist mein bester Freund.«
KAPITEL 26
Bates hielt sich immer noch in der Einsatzzentrale auf, als jemand den Raum betrat. Bates blickte auf und bemühte sich, seine Bestürzung nicht zu offen zu zeigen.
Buck Winters nahm ihm gegenüber Platz. Die Falten in seinem Anzug entsprachen exakt den ungeschriebenen FBIVorschriften, und der Glanz auf seinen spitzen Schuhen war genauso vorbildlich. Sein Einstecktuch saß so akkurat, dass es aussah, als hätte er es mit Hilfe eines Lineals ausgerichtet. Er war groß, breitschultrig, hatte freundliche und intelligente Gesichtszüge und war das Paradebeispiel des perfekten FBIAgenten. Vielleicht war er nur aus diesem Grund so weit in der Hierarchie aufgestiegen.
»Ich habe gesehen, wie London vor kurzem dieses
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