Der Abgrund
völliger Stille. Dann spürte sie, dass etwas ihre Lippen berührte. Sie wich zurück.
»Wasser«, sagte der Mann. »Sie haben einen trockenen Mund. Leute, die sich vor Angst in die Hosen scheißen, kriegen den immer. Trinken Sie.«
Die letzten Worte waren ein Befehl, und Claire gehorchte sofort.
»Jetzt reden Sie. Kein Kopfschütteln oder Nicken mehr, verstanden?«
Sie wollte nicken, besann sich aber sogleich. »Ja.«
»Was hat er über Kevin gesagt? Alles, ich will alles wissen.«
»Warum?« Sie wusste nicht genau, von wem diese kühne Frage gekommen war.
»Ich habe meine Gründe.«
»Wollen Sie dem Jungen etwas tun?«
»Nein«, erwiderte der Mann ruhig. »Ich will ihn nur gesund und wohlbehalten zurückhaben.«
Er hörte sich aufrichtig an, aber das war bei Kriminellen öfter der Fall, sagte sie sich. Ted Bundy war der König aller glattzüngigen Schwätzer gewesen und hatte dabei lächelnd reihenweise Frauen umgebracht.
»Ich habe keinen Grund, Ihnen zu glauben.«
»Kevin... er ist mein Sohn.«
Sie verkrampfte sich und entspannte sich dann wieder. Konnte das dieser Big F sein, von dem Web ihr erzählt hatte? Aber er hatte gesagt, der Mann sei Kevins Bruder, nicht sein Vater. Dieser Mann hier hörte sich an wie ein besorgter Vater, aber irgendetwas stimmte da nicht. Claire würde einfach ihren professionellen Instinkten vertrauen müssen.
»Web hat gesagt, er habe Kevin in der Gasse gesehen. Kevin hat etwas zu ihm gesagt, und es sei ihm auf unheimliche Weise nahe gegangen. Dann hat er ihn später gesehen, während die Maschinenpistolen schossen. Er gab ihm einen Zettel und schickte ihn fort. Danach hat er ihn nicht mehr gesehen. Aber er sucht nach ihm.«
»Ist das alles?«
Sie nickte und riss sich dann wieder zusammen. Sie spürte, dass er näher rückte, und trotz der Binde schloss sie die Augen. Sie merkte, dass sich dort Tränen bildeten.
»Kein weiteres Nicken oder Kopfschütteln, das ist die Grundregel. Ich will Worte hören. Ja, nein. Nein, Ja. Das sage ich jetzt zum letzten Mal, kapiert?«
»Ja.« Sie kämpfte gegen die Tränen an.
»Also, hat er sonst noch was gesagt? Ist irgendwas Seltsames passiert, als er Kevin das zweite Mal sah?«
»Nein«, sagte sie, aber sie hatte eine Sekunde zu lange gezögert. Sie spürte es genau, als hätte die Pause einen Tag lang gedauert. Und sie dachte, dass er es auch bemerkt hatte, und ihre Annahme war richtig, denn augenblicklich spürte sie die kalte Mündung einer Pistole an ihrer Wange.
»Wir scheinen hier ein ziemliches Missverständnis zu haben. Vielleicht habe ich mich nicht klar ausgedrückt. Nur damit wir uns verstehen, erklär ich's dir noch einmal, du Miststück: Um meinen Jungen zurückzukriegen, blase ich dir das Gehirn aus dem Kopf, dir und jedem, an dem dir jemals was gelegen hat. Ich sehe hier überall Fotos von diesem süßen kleinen Mädchen. Ich wette, das ist deine Tochter, oder?«
Claire antwortete nicht und spürte, wie sich seine Hand um ihren Hals legte. Dass sie in einem Handschuh steckte, überraschte sie nur so lange, bis sie an Fingerabdrücke und DNS-Proben dachte, die man von Leichen nehmen konnte. Von ihrer Leiche! Dieser Gedanke ließ sie fast ohnmächtig werden.
»Oder?«
»Jja!«
Er ließ seine Hand an ihrem Hals. »Dein kleines Mädchen ist wohlauf und in Sicherheit. Ein perfektes kleines Haus in einem perfekten kleinen Stadtteil. Aber mein Junge ist irgendwo da draußen, und er ist alles, was ich habe. Warum hast du dein Mädchen, und ich hab meinen Jungen nicht? Findest du das fair? Findest du das?« Er drückte ihren Hals ein wenig, und Claire musste würgen.
»Nein.«
»Was, nein?«
»Nein, ich finde es nicht fair«, brachte sie mit halb erstickter Stimme hervor.
»Ach? Tja, dafür ist es etwas spät, Baby.«
Dann wurde sie auf das Bett zurückgedrängt. Ihr früheres Versprechen, gegen sie zu kämpfen, wenn sie versuchen sollten, sie zu vergewaltigen, kam ihr jetzt lächerlich vor. Sie hatte solche Angst, dass sie kaum atmen konnte. Sie spürte, wie ihr ein Kissen auf das Gesicht gedrückt und dann etwas Hartes genau in die Mitte des Kissens gerammt wurde. Erst nach ein paar Sekunden wurde ihr klar, dass der harte Gegenstand die Pistole war und das Kissen als einfacher Schalldämpfer dienen würde.
Sie dachte an ihre Tochter, Maggie, und sie dachte daran, wie man ihre Leiche finden würde. Tränen rannen ihre Wangen hinab. Und dann konnte sie einen wundersamen Augenblick lang wieder klar
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