Der Abgrund
schlüpfte, da die Hitze zurückgekehrt war, in ein T-Shirt und Shorts. Barfuß trat sie wieder heraus und warf einen Blick auf das Telefon. Vielleicht sollte sie Web anrufen und mit ihm sprechen. Irgendwann musste sie ihm sagen, was sie über Stocktons Tod erfahren hatte. Doch der Zeitpunkt war kritisch. Wenn sie es ihm zu früh oder zu spät verriet, konnte die Enthüllung katastrophale Folgen haben. Sie entschied sich erst einmal dafür, nichts zu sagen und die Entscheidung später zu treffen. Vielleicht würde ihr der Spaziergang dabei helfen. Sie ging zur Kommode und holte eine Baseballkappe heraus. Sie wollte sie gerade aufsetzen, als sich eine Hand auf ihren Mund legte.
Sie ließ die Kappe fallen und wehrte sich instinktiv, bis sie die Pistole an ihrer Wange spürte. Da hörte sie auf; sie hatte die Augen weit aufgerissen, und ihr Atem kam plötzlich schwer. Ihr fiel ein, dass sie die Tür nicht abgeschlossen hatte, als sie das Haus betreten hatte. Die Gegend hier war so sicher; zumindest war sie es gewesen. Ihre rasenden Gedanken fragten sich, ob der Gasmann doch ein Betrüger gewesen und zurückgekommen war, um sie nun zu vergewaltigen und dann zu ermorden.
»Was wollen Sie?«, fragte sie mit einer Stimme, die von der Hand über ihrem Mund so gedämpft wurde, dass sie kaum wie die ihre klang. Sie wusste, dass es ein Mann war, auch wenn seine Hand in einem Handschuh steckte. Seine Stärke verriet ihn. Die Hand verlies ihren Mund und legte sich um ihren Hals.
Der Mann antwortete nicht, und Claire sah die Augenbinde, und im nächsten Moment war sie von völliger Dunkelheit umgeben. Sie merkte, wie sie zum Bett geführt wurde, und hatte schreckliche Angst davor, dass man sie nun vergewaltigen würde. Sollte sie schreien, sich wehren? Noch immer wurde die Waffe an ihre rechte Wange gedrückt. Und das Schweigen des Angreifers war weitaus beunruhigender, als seine Stimme es sein könnte.
»Bleiben Sie ganz ruhig«, sagte der Mann. »Wir wollen nur ein paar Informationen von Ihnen, sonst nichts.« Seine Worte klangen ziemlich eindeutig. Ihr Körper war nicht in Gefahr. Zumindest konnte sie darauf hoffen.
Er drückte sie hinunter, so dass sie auf der Bettkante saß. Sollte er sie zurückschieben und auf sie steigen, würde sie kämpfen, ob er nun eine Pistole hatte oder nicht.
Doch dann bemerkte sie, dass er von ihr zurücktrat. Gleichzeitig spürte sie, wie eine weitere Person den Raum betrat. Sie wurde ganz starr, als sie sich neben sie auf das Bett setzte. Es musste ein schwerer Mann sein, denn das Bett ging unter seinem Gewicht ganz schön runter. Aber er berührte sie nicht, auch wenn sie selbst durch die Augenbinde spüren konnte, wie sein Blick auf ihr ruhte.
»Sie treffen sich mit Web London?«
Bei dieser Frage zuckte sie kurz zusammen, denn ihr war nicht in den Sinn gekommen, dass diese Sache mit Web zu tun haben könnte. Sie fragte sich, warum sie nicht eher darauf gekommen war. Sie führte ein eher gewöhnliches Leben, Routine, keine Pistolen und Toten. Das war eher Webs Leben. Ob es ihr nun gefiel oder nicht, jetzt war sie ein Teil dieses Lebens.
»Was meinen Sie?«, brachte sie hervor.
Sie hörte, dass der Mann grunzte, offensichtlich verärgert, dachte sie.
»Sie sind Psychiaterin, und er ist Ihr Patient, nicht wahr?«
Claire hätte am liebsten gesagt, dass sie diese Information aus moralischen Gründen nicht preisgeben konnte, aber sie war sich sicher, dass dieser Mann sie dann töten würde. Als würde er auf so etwas wie ärztliche Schweigepflicht Rücksicht nehmen. Wie um ihre Annahme zu unterstützen, drang ein Klicken an ihr Ohr, das sich anhörte, als würde der Hahn einer Pistole gespannt. Ein großer, kalter Klumpen bildete sich in ihrer Magengegend. Sie fragte sich, wie Web es schaffte, jeden Tag seines Lebens mit solchen Leuten umzugehen.
»Ja, ich treffe mich mit ihm.«
»Jetzt kommen wir weiter. Hat er Ihnen gegenüber einen Jungen erwähnt, einen Jungen namens Kevin?«
Sie nickte. Ihr Mund war derart ausgetrocknet, dass sie glaubte, nicht sprechen zu können.
»Weiß er zufällig, wo dieser Junge jetzt ist?«
Claire schüttelte den Kopf und verkrampfte sich, als er ganz leicht ihre Schulter drückte.
»Entspannen Sie sich, Lady. Niemand wird Ihnen was tun, solange Sie Antwort geben. Wenn Sie nicht antworten, haben wir allerdings ein ziemliches Problem«, fügte er drohend hinzu.
Claire hörte, wie er mit den Fingern schnippte, und ungefähr eine Minute verging in
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