Der Abgrund
Augenpaar, das etwas gesehen hat.«
Die Männer schwiegen eine Weile. Schließlich blickte Bates mit unbehaglicher Miene auf.
»Web, was ist wirklich geschehen?«
»Was meinen Sie damit? Wie es kommt, dass es nicht wie am Schnürchen lief?«
»Ich habe gesagt, was ich meine!«
Web blickte über den Hof auf die Stelle, wo er zu Boden gegangen war. »Ich habe als Letzter die Straße verlassen. Es war, als könnte ich mich nicht mehr rühren. Zuerst dachte ich, ich hätte einen Schlaganfall. Dann lag ich auf dem Asphalt, bevor die Schießerei begann. Ich weiß auch nicht, warum.« Webs Geist war für einen Moment völlig leer, dann war sein Bewusstsein wieder da, wie bei einem Fernseher, wenn in der Nähe ein Blitz einschlug. »Es hat nur eine Sekunde gedauert, Perce. Dann war alles vorbei. Nur eine Sekunde. Das mieseste Timing der Weltgeschichte.« Er beobachtete Bates, um seine Reaktion darauf einzuschätzen. Die leicht zusammengekniffenen Augen des Mannes verrieten ihm alles, was er wissen wollte.
»Vergessen Sie's. Ich glaub auch nicht dran«, sagte Web. Bates schwieg weiter, und Web beschloss, den zweiten Grund anzusprechen, weswegen er gekommen war. »Wo ist die Fahne?«, fragte er. Bates sah ihn überrascht an. »Die Fahne des Geiselrettungsteams. Ich muss sie nach Quantico zurückbringen.«
Bei jeder Mission des HRT erhielt das dienstälteste Mitglied die Fahne des Teams, die er in seiner Ausrüstung bei sich trug. Nach Abschluss der Mission wurde sie an den Leiter der Geiselrettung zurückgegeben. Und nun war Web das dienstälteste Mitglied des Teams, und ihm fiel diese Aufgabe zu.
»Folgen Sie mir«, sagte Bates.
Auf der Straße parkte ein FBI-Wagen. Bates öffnete die Hintertür des Fahrzeugs, holte eine Fahne heraus, die nach militärischer Art zusammengefaltet war, und reichte sie Web.
Web hielt die Fahne mit beiden Händen und starrte eine Weile auf die Farben, während ihm wieder sämtliche Einzelheiten des Massakers durch den Kopf gingen.
»Sie hat ein paar Löcher«, sagte Bates.
»Haben wir die nicht alle?«, entgegnete Web.
KAPITEL 5
Am folgenden Tag fuhr Web zum Sitz des Geiselrettungsteams in Quantico. Er nahm die Marine Corps Route 4 und kam an der FBI-Akademie vorbei, die wie ein Universitätscampus angelegt war und in der die Leute des FBI und der DEA untergebracht waren. Web hatte dreizehn sehr intensive und stressreiche Wochen seines Lebens an der Akademie verbracht und sich alles eintrichtern lassen, was man als FBI-Agent benötigte. Zur Belohnung hatte Web ein winziges Gehalt bezogen und in einem Schlafraum mit gemeinsamem Bad gewohnt. Er hatte sogar seine eigenen Handtücher mitbringen müssen! Doch Web hatte das alles großen Spaß gemacht, und er hatte beharrlich daran gearbeitet, zu einem hervorragenden FBI-Agenten zu werden, weil er geglaubt hatte, für diesen Job geboren zu sein.
Web hatte die Akademie als frisch gebackener und eingeschworener Agent der Bundespolizei mit seiner Smith & Wesson 357 verlassen. Der Revolver wurde erst beim enormen Druck von neun Pfund ausgelöst. Mit dieser Waffe schoss man sich nur äußerst selten versehentlich in den Fuß. Heutzutage trugen die Rekruten eine 40er-Glock-Halbautomatik mit vierzehnschüssigem Magazin, deren Abzug viel leichter zu betätigen war. Web hatte seine Smith & Wesson mit dem DreiZoll- Bull- Barrel gemocht. Das bedeutete jedoch nicht, dass sie besser gewesen war.
In den nächsten sechs Jahren hatte Web gelernt, wie sich ein FBI-Agent im Einsatz verhielt. Er hatte sich schwitzend durch einen Berg aus Papierkram gekämpft, Hinweise aufgespürt, Informanten aufgetrieben, Beschwerden bearbeitet, an Abhöranlagen Wache geschoben, ganze Nächte mit Beschattungen verbracht, Fälle bearbeitet und Leute verhaftet, die dringend verhaftet werden mussten. Web war bis an den Punkt gelangt, an dem er in fünf Minuten einen Schlachtplan zusammenschustern konnte, während er mit einem Bucar unterwegs war - wie die behördeneigenen Wagen intern genannt wurden. Er konnte mit hundertachtzig Sachen über den Highway brettern und mit den Knien lenken, damit er die Hände frei hatte, um seine Waffe zu laden. Er hatte gelernt, wie man Verdächtige befragte, sich ein Bild vom Tathergang machte und den Leuten dann bohrende Fragen stellte, um sie zu verunsichern und später besser einschätzen zu können, ob sie gelogen hatten. Und er hatte gelernt, wie er eine Aussage vor Gericht machte, ohne sich von aalglatten Anwälten in die Irre
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