Der Abgrund
Jetzt ist es zu spät.«
»Da sei dir nicht so sicher. Nach dem wenigen zu urteilen, was ich von ihr gesehen habe, kann sie ganz gut auf sich selbst aufpassen. Während der Fahrt zur Farm habe ich mich mit ihr unterhalten, und die Lady hat wirklich einen scharfen Verstand.«
»Du meinst, du hast versucht, kostenlos psychiatrische Beratung in Anspruch zu nehmen.«
»Ich hab mich nicht danach gedrängt, aber he, jeder hat mal Probleme, okay? Und als ich mit Claire sprach, hat sie mir die Augen für einige Dinge geöffnet. Nimm zum Beispiel mich und Angie.«
Web sah ihn interessiert an, und wenn auch nur, um sich wenigstens für einige Sekunden von Claires Notlage abzulenken. »Okay, was ist mit dir und Angie?«
Romano schien sich nun, da er das Thema zur Sprache gebracht hatte, überhaupt nicht mehr wohl in seiner Haut zu fühlen. »Sie will nicht, dass ich weiter beim HRT arbeite. Sie hat es satt, dass ich ständig auf Achse bin. Ich denke, das kann niemanden verwundern.« Leise fügte er hinzu: »Und die Jungs werden älter und verdienen einen Vater, der länger bei ihnen ist als nur ein paar Tage im Jahr.«
»Hat sie das gesagt?«
Romano senkte verschämt den Blick. »Nein, das habe ich gesagt.«
»Demnach denkst du ernsthaft daran, deine 45er an den Nagel zu hängen?«
Romano musterte ihn prüfend. »Denkst du denn niemals daran?«
Web lehnte sich zurück. »Ich habe mich vor kurzem mit Debbie unterhalten, und sie hat mehr oder weniger dasselbe über Teddy erzählt. Aber bei mir ist es anders. Ich habe keine Frau oder Kinder, Paulie.«
Romano rutschte vor. »Sieh mal, in den vergangenen acht Jahren habe ich viermal Weihnachten versäumt, bei zwei meiner Jungs die erste heilige Kommunion, jedes verdammte Halloween, zweimal Thanksgiving und die Geburt meines Sohnes Robbie! Und außerdem wer weiß wie viele Geburtstage, Baseball- und Fußballspiele und andere besondere Ereignisse. Verdammt, es ist fast so, dass meine Jungs total überrascht sind, wenn ich mal zu Hause bin, Web; denn dass ich nicht da bin ist für sie der Normalzustand.«
Er berührte die Stelle in der Nähe seines Bauchnabels. »Und diese Kugel vergangene Nacht? Es war ein schlimmer Bluterguss und für eine Weile tat es verdammt weh, aber wenn die Kugel mich ein paar Zentimeter tiefer oder einen halben Meter höher und im Schädel erwischt hätte? Dann wäre ich jetzt nicht mehr hier. Aber weißt du was? Es wäre nicht viel anders gewesen als zu meinen Lebzeiten, zumindest für Angie und die Jungen. Und was passiert dann? Angie wird wieder heiraten, und die Jungen kriegen vielleicht endlich einen richtigen Dad und vergessen irgendwann, dass Paul Romano ihr leiblicher Vater ist. Deswegen würde ich mich am liebsten gleich selbst erschießen, Web, wirklich. Jedes Mal, wenn ich daran denke... Scheiße!«
Web konnte tatsächlich sehen, wie Romanos Augen feucht wurden, und miterleben zu müssen, wie einer der härtesten Männer, die er je gekannt hatte, aus Liebe zu seiner Familie regelrecht in die Knie ging, traf ihn heftiger, als Francis Westbrook es jemals vermocht hätte.
Romano drehte schnell den Kopf zur Seite und wischte sich verstohlen das Gesicht ab.
Web umklammerte Romanos Schulter. »Dazu wird es nicht kommen, Paulie. Du bist ein guter Vater. Deine Kinder würden dich niemals vergessen.« Kaum hatte er es ausgesprochen, da war es, als würde Web von einem Blitz getroffen. Er hatte seinen Vater vergessen, und zwar total. Eine Geburtstagsparty, sechs Jahre alt. Claire hatte gemeint, dass Web und sein alter Herr wirklich viel Spaß miteinander gehabt hatten. Bis die Cops erschienen. »Und du leistest deinem Land auch noch einen guten Dienst, vergiss das nicht«, fügte er hinzu. »Niemand schert sich einen feuchten Kehricht darum, seinem Land zu dienen. Alle beklagen sich lediglich, wie beschissen alles ist, ohne irgendwas zu tun, damit es besser wird.«
»Ja, meinem Land dienen. Und halbwüchsige Kinder und altersschwache Knacker ausschalten, die mit einer Bazooka noch nicht mal auf drei Schritte Entfernung die Freiheitsstatue treffen würden.«
Web lehnte sich wieder zurück; er hatte zu diesem Thema nichts mehr zu sagen.
Romano sah ihn an. »Claire wird irgendwann wieder auftauchen, Web, und wer weiß, vielleicht könnt ihr beiden mehr als Freunde sein. Und endlich richtig leben.«
»Meinst du nicht, dass es dafür zu spät ist?« Alles klang einfach zu schön, um wahr zu sein.
»Verdammt, wenn es für mich nicht zu spät
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