Der Abgrund
töten konnte, wenn es Not tat. Paul Romano war ein Mann, der mit seinen Waffen sprach, der ihnen Namen gab, wie andere Leute es mit Haustieren machten. Seine MP-5 hieß Freddy, nach Freddy Krueger aus Nightmare on Elm Street, und seine beiden 45er hießen Cuff und Link, nach den Schildkröten aus dem Film Rocky. Ja, es war kaum zu glauben, aber Paul Romano aus Brooklyn war ein großer Fan von Sly Stallone - auch wenn er sich ständig beklagte, dass dieser »verdammte Rambo nicht mehr als ein Warmduscher« war. Romano blickte überrascht hoch, als Web auf ihn zukam und in den Motorraum der nassaublauen Corvette mit dem weißen aufklappbaren Verdeck lugte. Web wusste, dass der Wagen aus dem Jahr 1966 stammte und dass dieses Baujahr erstmals mit dem berühmten 427-Kubikzoll-Motor ausgestattet worden war, der eine Leistung von 450 PS brachte - weil Romano es ihm und allen anderen Leuten von der Geiselrettung mindestens tausend Mal erzählt hatte.
»Mit handgeschaltetem Vierganggetriebe. Höchstgeschwindigkeit einhundertfünfundsechzig Meilen. Damit fegst du alles von der Straße«, hatte er so oft gesagt, bis Web es nicht mehr hören konnte.
»Polizeistraßenkreuzer, stinkende Familienkutschen, verdammt, sämtliche Fließbandmodelle, die die langsamen Spuren verstopfen.«
Web hatte sich oft gefragt, wie es wohl gewesen wäre, als Kind mit Schraubenschlüsseln zu hantieren und zusammen mit seinem Dad Autos zu zerlegen. Alles über Vergaser, Sport und Frauen zu lernen - all die Dinge, die das Leben lebenswert machten. Zum Beispiel: Was soll ich sagen, Dad? Da sitzt sie also neben mir, und ich frage mich, soll ich meinen Arm um sie legen und es vielleicht sogar wagen, meine Hand da hinzulegen? Ja, genau da. Was meinst du? Du warst doch auch mal jung, nicht wahr? Erzähl mir nicht, du hättest nie über solche Sachen nachgedacht! Schließlich steh ich hier neben dir! Und wann sollte ich versuchen, sie zu küssen? Wo drauf muss ich achten? Dad, du wirst es nicht glauben, aber ich versteh diese blöden Weiber nicht. Wird es einfacher mit ihnen, wenn sie älter werden? Und sein Alter würde mit einem wissenden Zwinkern lächeln, einen Schluck Bier nehmen, nachdenklich an seiner Marlboro ziehen, sich setzen, die Hände an einem schmutzigen Lappen abwischen und sagen: Okay, Junior. Hör mir genau zu. Ich werde es dir erklären, und du solltest es dir lieber aufschreiben, denn jetzt kommt das Evangelium, mein Sohn. Web starrte in den Brustkorb der Corvette und fragte sich, wie ein solches Gespräch ablaufen würde.
Romano warf Web einen Blick zu und sagte nichts davon, dass der 450-PS-Motor stinkende Familienkutschen und langsame Fließbandmodelle von der Straße fegen konnte. Er sagte nur: »Bier ist in der Kühlbox. Nimm dir eine Dose. Macht 'n Dollar.«
Web griff in den kleinen Coleman zu seinen Füßen und machte sich ein Budweiser auf, doch ohne eine Dollarnote als Bezahlung hineinzulegen. »Weißt du, Paulie, Bud ist nicht alles. Es gibt da ein paar scharfe südamerikanische Biere, die du unbedingt probieren solltest.«
»Bei meinem Lausegehalt?«
»Wir verdienen dasselbe.«
»Ich habe Frau und Kinder, du hast gut reden.«
Romano setzte noch ein paar Mal den Schraubenzieher an, dann ging er an Web vorbei und startete den Motor. Das Geräusch klang so mächtig, als wollte die Maschine aus dem Metallgehäuse springen, das sie zusammenhielt.
»Schnurrt wie ein Kätzchen«, sagte Web und nahm einen Schluck Bier.
»Wie ein Tiger!«
»Können wir reden? Ich habe ein paar Fragen.«
»Du genauso wie jeder andere. Klar, schieß los. Ich hab alle Zeit der Welt. Was sollte ich sonst mit meinem freien Tag anfangen? Mich amüsieren? Also, was brauchst du? Eine Ballettstrumpfhose? Ich werd mal meine Frau fragen.«
»Ich bin dir dankbar, dass du nicht versuchst, mich vor allen anderen in Quantico fertig zu machen.«
»Und ich bin dir dankbar, dass du mich nicht anquatschst. Wo wir gerade dabei sind - verpiss dich von meinem Grundstück. Ich stelle gewisse Mindestanforderungen an die Leute, mit denen ich verkehre.«
»Lass uns einfach miteinander reden, Paulie. Das bist du mir schuldig.«
Romano zeigte mit dem Schraubenschlüssel auf ihn.
»Ich bin dir gar nichts schuldig, London.«
»Ich denke, nach acht Jahren in diesem Job sind wir beide uns mehr schuldig, als wir jemals abtragen können.«
Die Männer starrten sich eine Weile an, bis Romano den Schraubenschlüssel weglegte, sich die Hände abwischte,
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