Der Abgrund
den Tiger abstellte und hinter das Haus ging. Web verstand es als Aufforderung, ihm zu folgen. Doch gleichzeitig ging ihm die Möglichkeit durch den Kopf, dass Romano vielleicht nur einen größeren Schraubenschlüssel holen wollte, um damit auf ihn einzuschlagen.
Der Garten hinter dem Haus bestand aus einem gemähten Rasen und gestutzten Bäumen. Ein üppiger Rosenstrauch quoll hinter einer Ecke der Garage hervor. Die Temperatur musste bei mindestens 25 Grad in der Sonne liegen, was sich nach dem vielen Regen gut anfühlte. Sie holten sich zwei Gartenstühle und setzten sich. Web beobachtete, wie Romanos Frau Angie Wäsche zum Trocknen auf einer Leine aufhing. Sie stammte ursprünglich aus Mississippi. Die Romanos hatten zwei Kinder, beides Jungen. Angie war zierlich und immer noch gut gebaut. Sie hatte langes blondes Haar, betörende grüne Augen und einen gierigen, fordernden Blick. Sie war ständig am Flirten, sie berührte jeden am Arm, streifte mit dem Fuß ein Bein und sagte, dass sie einen sympathisch fand, aber es war nur ein Spiel. Romano machte es manchmal verrückt, doch Web wusste, dass er es in Wirklichkeit genoss, wenn andere Männer seine Frau attraktiv fanden. Das war einfach ein Teil von Romanos Persönlichkeit. Aber wenn Angie Romano wütend wurde, sollte man sich in Acht nehmen. Web hatte diese Seite von ihr bei einigen Treffen der HRT-Angehörigen miterlebt. Die kleine Frau konnte zu einer Löwin auf Speed werden. Männer, die mit beiden Beinen im Leben standen und täglich mit schweren Waffen hantierten, gingen in Deckung, wenn Angie das Kriegsbeil ausgrub.
Paul Romano war Kämpfer im Hotel- Team, aber er und Web waren zur gleichen Zeit zur Geiselrettung gekommen und etwa drei Jahre lang ein Scharfschützenteam gewesen. Romano war von den Deltas zum FBI übergewechselt. Obwohl er wie Web gebaut war, der ebenfalls keine ausgeprägten Muskeln besaß, waren die Muskeln, die er besaß, kräftig wie Stahlseile. Und sein Motor gab niemals den Geist auf. Ganz gleich, was man ihm in den Weg legte, er kämpfte sich unaufhaltsam hindurch. Während eines nächtlichen Überfalls auf die Festung eines karibischen Drogenbosses war Romano zu weit vom Ufer entfernt vom Boot abgesetzt worden, und der Kerl war mit sechzig Pfund Ausrüstung am Leib in fünf Meter tiefes Wasser gestürzt. Statt wie jeder andere einfach zu ertrinken, hatte er vier Minuten lang den Atem angehalten, war zum Ufer gelaufen und hatte sich am Angriff beteiligt. Weil es in der Kommunikation ein Missverständnis gegeben hatte und sich die Zielperson nicht genau dort befunden hatte, wo man sie erwartete, war es schließlich sogar Romano gewesen, der zuerst zwei Leibwächter getötet und den Oberboss festgesetzt hatte. Und das Einzige, worüber sich Romano anschließend aufgeregt hatte, war die Tatsache, dass seine Haare nass geworden waren und er seine Pistole namens Cuff verloren hatte.
Romano war fast am ganzen Körper tätowiert, mit Drachen, Messern und Schlangen und dem niedlichen Schriftzug ANGIE in einem Herz auf seinem linken Bizeps. Web war bereits am allerersten Tag der HRT-Auswahlklasse jenes Jahres an Romano geraten, als die meisten der Bewerber nackt und eingeschüchtert auf die kommenden Schrecken warteten. Web hatte die anderen Männer überprüft, nach Narben auf Knien oder Schultern Ausschau gehalten, die auf körperliche Schwächen hinwiesen, oder in den Gesichtern nach Anzeichen für mentale Erschöpfung gesucht. Es war Darwinismus in Reinkultur gewesen, und Web hatte auf alles geachtet, was ihm Pluspunkte bei diesem Wettkampf einbringen würde. Er hatte gewusst, dass nur die Hälfte der Männer die ersten Prüfungen überstehen würden, die zwei Wochen später stattfanden, und von diesen würde nur einer unter zehn das Angebot erhalten, noch einmal zurückzukehren und sich dieses Mal wirklich umzubringen.
Romano war vorher im SWAT-Team des FBI von New York City gewesen, wo er den Ruf erworben hatte, ein besonders harter Kerl in einer Gruppe harter Kerle zu sein. Es schien ihn nicht im Geringsten einzuschüchtern, am ersten Tag der HRT- Aufnahmeprüfungen gemeinsam mit siebzig anderen nackten Männern in einem Raum zu stehen. Auf Web hatte er den Eindruck eines Mannes gemacht, der Schmerzen liebte, der es gar nicht erwarten konnte, dass das HRT ihm den Hintern versohlte. Und genauso problemlos konnte er anderen Leuten Schmerzen zufügen. Damals war sich Web selbst noch gar nicht sicher gewesen, ob er die Anforderungen
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