Der Abgrund
bezahlen, niemand behelligte ihn, und der einzige Zimmerservice war die McDonald's-Tüte, die man selbst mitbrachte, oder der Getränke- und Snackautomat, der draußen vor seinem Zimmer an eine mit Graffiti beschmierte Säule angekettet war. Er sah fern und aß seinen Cheeseburger mit Pommes frites. Dann nahm er das Tablettenfläschchen aus seinem Beutel und schluckte zwei Pillen. Kurz danach fiel er in einen tiefen Schlaf, und ausnahmsweise wurde er in dieser Nacht nicht von Albträumen heimgesucht.
KAPITEL 16
An einem frühen Samstagmorgen fuhr Scott Wingo mit seinem Rollstuhl eine Rampe hinauf und schloss die Tür eines vierstöckigen Ziegelhauses aus dem neunzehnten Jahrhundert auf, in dem sich sein Büro befand. Wingo war geschieden, hatte erwachsene Kinder und eine florierende Anwaltspraxis in Richmond, der Stadt, in der er geboren war und in der er sein gesamtes Leben verbracht hatte. Die Sonnabende waren für ihn die Zeit, in der er sein Büro aufsuchte und nicht von klingelnden Telefonen, klappernden Tastaturen, genervten Kollegen und anstrengenden Klienten belästigt wurde. Diese Nettigkeiten verteilten sich auf die übrige Woche. Er ging hinein, machte sich eine Kanne Kaffee, würzte sie mit Gentleman Jim, seinem Lieblingsbourbon, und rollte in sein Arbeitszimmer.
Die Rechtsanwälte Scott Wingo und Partner waren seit fast dreißig Jahren eine feste Institution in Richmond. Wingo hatte allein in einem Büro angefangen, das kaum größer als ein Kleiderschrank gewesen war, und praktisch jeden verteidigt, der genug Geld hatte, um ihn zu bezahlen, und heute war er Chef eines Unternehmens mit sechs Anwälten, einem Privatdetektiv, der ausschließlich für ihn arbeitete, und acht Angestellten. Als einziger Teilhaber der Firma machte er in einem guten Jahr einen Gewinn in siebenstelliger Höhe und blieb selbst in schlechten Zeiten im mittleren sechsstelligen Bereich. Und seine Klienten waren auch immer vermögender geworden. Er hatte sich jahrelang geweigert, Leute aus dem Drogengeschäft zu verteidigen, aber damit war eine Menge Geld zu machen, und Wingo hatte es irgendwann satt gehabt, dass wesentlich imkompetentere Anwälte diese Dollars einsackten. Er tröstete sich damit, dass jeder, ganz gleich, welche Verbrechen er begangen haben mochte, das Recht auf eine gute - und sogar auf eine sehr gute - Verteidigung hatte.
Wingo war ein äußerst fähiger Anwalt vor Gericht, und seine Wirkung auf die Geschworenen hatte kein bisschen darunter gelitten, dass er seit zwei Jahren an den Rollstuhl gefesselt war, weil sein Diabetes und die Leber- und Nierenprobleme immer schlimmer geworden waren. In gewisser Weise hatte er sogar den Eindruck, dass sein sichtbares Gebrechen ihm einen viel besseren Zugang zu den Geschworenen ermöglichte. Und viele seiner juristischen Kollegen neideten ihm die Serie von gewonnenen Prozessen. Gleichzeitig verabscheuten ihn viele, die der Ansicht waren, er sei lediglich ein Handlanger für reiche Kriminelle, die sich auf diese Weise den rechtmäßigen Konsequenzen ihrer Missetaten entzogen. Wingo sah das natürlich anders. Aber er hatte es schon vor längerer Zeit aufgegeben, diesen Meinungsstreit für sich zu entscheiden, weil es einer der wenigen Punkte war, von denen er meinte, dass sie eines Streites unwürdig waren.
Er wohnte in einem repräsentablen Haus in Windsor Farms, einem wohlhabenden und begehrten Viertel von Richmond. Er fuhr einen Jaguar, den er sich speziell für seine Behinderung hatte umrüsten lassen. Er unternahm Luxusreisen an jeden Ort der Welt, den er besuchen wollte. Er war gut zu seinen Kindern und großzügig zu seiner Exfrau, mit der er sich noch immer gut verstand und die nach wie vor in ihrem alten Haus wohnte. Aber die meiste Zeit arbeitete er.
Im Alter von neunundfünfzig Jahren hatte Wingo bereits mehrere Prognosen seines vorzeitigen Todes Lügen gestraft. Solche Prognosen kamen entweder von Ärzten, die seine verschiedenen Krankheiten begutachtet hatten, oder von enttäuschten Klienten oder Klägern, die fanden, dass die Gerechtigkeit zu kurz gekommen war, weil Wingo das getan hatte, was er am besten konnte. Und seine Aufgabe bestand nun einmal darin, bei den zwölf Geschworenen begründete Zweifel an der Schuld des Angeklagten zu wecken. Dennoch wusste er, dass seine Zeit zu Ende ging. Er spürte es in seinen erschöpften Organen, in seinem schwachen Kreislauf und an seiner allgemeinen Ermattung. Er vermutete, dass er bis zum Tod arbeiten würde,
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