Der Abgrund
aber das wäre gar kein so schlechter Abgang.
Er trank einen Schluck Kaffee mit Gentleman Jim und nahm den Telefonhörer ab. Er telefonierte gern, selbst am Wochenende, vor allem, um Leute zurückzurufen, mit denen er eigentlich gar nicht sprechen wollte. Am Samstagmorgen waren sie nur selten zu Hause, und dann hinterließ er eine freundliche Nachricht, dass es ihm Leid tat, sie nicht erreicht zu haben. Er erledigte zehn solcher Anrufe und hatte das Gefühl, sehr produktiv zu sein. Sein Mund wurde immer trockener, vermutlich vom vielen Reden, und er trank einen weiteren Schluck von seinem Kaffee mit Schuss. Er nahm sich einen Antrag vor, an dem er gearbeitet hatte. Falls ihm stattgegeben wurde, würden in einem Verfahren gegen einen Einbrecherring die Beweise für unzulässig erklärt werden. Vielen Leuten war gar nicht bewusst, dass Prozesse manchmal schon gewonnen waren, bevor irgendjemand einen Gerichtssaal betreten hatte. Wenn dieser Antrag erfolgreich war, würde es gar kein Verfahren geben, weil die Anklage über keinerlei Handhabe mehr verfügte.
Nach mehreren Stunden Arbeit und weiteren Telefonaten nahm er seine Brille ab und rieb sich die Augen. Der verdammte Diabetes beeinträchtigte fast jeden Teil seines Körpers, und erst letzte Woche hatte er erfahren, dass er auch noch grünen Star hatte. Vielleicht holte der Herr ihn zurück, weil er hier auf Erden so gute Arbeit geleistet hatte.
Er glaubte, er hätte gehört, wie sich eine Tür öffnete. Vielleicht kam einer seiner überbezahlten Anwälte tatsächlich am Wochenende ins Büro, um irgendwelche liegen gebliebenen Akten zu erledigen. Die jungen Leute hatten einfach nicht mehr dieselbe Arbeitsethik wie Wingos Generation, obwohl sie phänomenale Summen verdienten. Wann hatte er in den ersten fünfzehn Jahren seiner Tätigkeit einmal nicht am Wochenende geschuftet? Heutzutage beklagten sich die Jungen bereits, wenn sie bis nach sechs bleiben mussten. Verdammt, seine Augen würden ihn endgültig umbringen.
Er trank den Kaffee aus, aber sein Durst war noch nicht gelöscht. Aus einer Schreibtischschublade holte er sich eine Flasche Wasser und nahm einen Schluck. Jetzt bekam er Kopfschmerzen. Und sein Rücken tat ihm auch weh. Er legte einen Finger ans Handgelenk und zählte. Sein Puls war ebenfalls aus dem Gleichgewicht, aber das passierte ihm etwa alle zwei Tage. Sein Insulin hatte er bereits genommen, und der nächste Schuss war erst in einigen Stunden fällig. Trotzdem überlegte er, ob er den Termin vorziehen sollte. Vielleicht war sein Blutzuckerwert aus irgendeinem Grund runtergegangen. Er hatte immer wieder Schwierigkeiten gehabt, seine Insulin-Dosis richtig zu kalkulieren. Sein Arzt hatte ihm geraten, mit dem Trinken aufzuhören, aber das war einfach nicht drin. Wingo machte sich keine Illusionen. Für ihn war Bourbon eine Notwendigkeit, kein Luxus.
Diesmal war er sich sicher, dass er die Tür gehört hatte. »Hallo!«, rief er. »Bist du das, Missy?« Verdammt!, dachte er, was ist nur mit mir los? Missy war sein Hund, der vor zehn Jahren gestorben war. Wie zum Teufel war er jetzt auf Missy gekommen? Er versuchte sich auf den Antrag zu konzentrieren, aber seine Augen lieferten nur noch ein verschwommenes Bild, und mit seinem Körper geschahen so seltsame Dinge, dass Wingo sich allmählich ernsthafte Sorgen machte. Scheiße, vielleicht bekam er einen Herzinfarkt. Allerdings spürte er keine Schmerzen in der Brust, kein dumpfes Pulsieren im linken Oberarm.
Er blickte auf die Uhr, konnte aber nicht erkennen, wie spät es war. Okay, er musste etwas unternehmen. »Hallo!«, rief er wieder. »Ich könnte etwas Hilfe gebrauchen.« Er glaubte zu hören, wie sich Schritte näherten, aber niemand kam. Also gut, dann nicht!, dachte er. »Mistkerle!«, brüllte er. Er hob den Telefonhörer ab und schaffte es, seinen Finger zur Taste mit der Neun zu dirigieren und dann zweimal auf die Eins zu drücken. Er wartete, aber niemand meldete sich. Das bekam man also für seine Steuern. Man wählte die Notrufnummer, und nichts passierte. »Ich brauche Hilfe!«, rief er ins Telefon. Dann fiel ihm auf, dass er gar keinen Wählton hörte. Er legte auf und nahm wieder ab. Es gab nicht einmal ein Freizeichen. Scheiße. Wütend legte er wieder auf, aber er verfehlte den Apparat, und der Hörer fiel zu Boden. Er zerrte an seinem Hemdkragen, weil er kaum noch Luft bekam. Er hatte seit längerem vorgehabt, sich eins dieser blöden Handys zuzulegen, war aber nie dazu gekommen.
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