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Der Abgrund

Titel: Der Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baldacci
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»Ist da draußen jemand, verdammt nochmal?« Jetzt konnte er deutlich Schritte hören. Inzwischen konnte er fast gar nicht mehr atmen, so, als würde etwas in seiner Luftröhre stecken. Er war schweißüberströmt. Er blickte zur Tür. Durch die Nebelschleier in seinem Gesichtsfeld konnte er erkennen, dass sie sich öffnete. Jemand kam herein.
    »Mutter?« Er wollte einen Besen fressen, wenn das nicht seine Mutter war, auch wenn sich in diesem November zum zwanzigsten Mal ihr Todestag jährte. »Mutter, ich brauche Hilfe. Es geht mir nicht gut.«
    Natürlich war niemand da. Wingo halluzinierte.
    Langsam rutschte er aus dem Rollstuhl, weil er sich darin nicht mehr halten konnte. Er kroch ihr über den Boden entgegen. Er keuchte angestrengt. »Mutter«, sagte er heiser zu seiner Vision. »Du musst deinem Jungen helfen, es geht ihm gar nicht gut.« Als er sie erreichte, verflüchtigte sie sich, einfach so. In dem Moment, als er sie am meisten brauchte. Wingo legte den Kopf auf den Boden und schloss langsam die Augen.
    »Ist da jemand? Ich brauche Hilfe«, sagte er ein letztes Mal.

KAPITEL 17

    Francis Westbrook steckte in ernsthaften Schwierigkeiten. Seine Stammlokale, die Orte, an denen er gewöhnlich seine Geschäfte abwickelte, waren für ihn nicht mehr verfügbar. Er wusste, dass das FBI nach ihm suchte, und wer immer ihn hereingelegt hatte, wollte ihn zweifellos restlos fertig machen. Davon musste er ausgehen. Auf seinem Tätigkeitsfeld war extreme Paranoia das Einzige, was ihn so lange am Leben erhalten hatte. Also hielt er sich, zumindest für die nächste Stunde, im Hintergrund eines Fleischerei-Lagerhauses im Südosten von D.C. auf.
    Von dort, wo er saß und sich den Arsch abfror, waren es nur zehn Minuten Fahrt zum Kapitol und anderen nationalen Baudenkmälern. Westbrook hatte sein ganzes Leben in Washington verbracht und bisher keine einzige dieser Sehenswürdigkeiten besucht. Die großen Gebäude einer großen Nation bedeuteten ihm überhaupt nichts. Er hielt sich nicht einmal für einen Amerikaner, Washingtoner oder einen Bürger von sonst was. Er war nur ein Mensch, der sich irgendwie durchzuschlagen versuchte.
    Mit zehn Jahren war es sein großes Ziel gewesen, das Alter von fünfzehn Jahren zu erreichen. Dann setzte er alles daran, zwanzig zu werden, bevor er sterben musste. Und danach fünfundzwanzig. Als er vor einigen Jahren dreißig geworden war, hatte er eine Party veranstaltet, die eines Achtzigjährigen würdig gewesen wäre. Weil es in seiner Welt nur damit vergleichbar war. Alles war relativ, und das galt für Francis Westbrook vielleicht in stärkerem Ausmaß als für andere Menschen.
    In diesen Tagen dachte er vielleicht am meisten über die Frage nach, warum er es sich mit Kevin vermasselt hatte. Sein  Wunsch, dass der Junge ein einigermaßen normales Leben führen konnte, hatte dazu geführt, dass er seine Sicherheit sträflich vernachlässigt hatte. Einige Zeit hatte er Kevin ständig bei sich gehabt, aber dann war eine Meinungsverschiedenheit unter seinen Leuten zu einem gewalttätigen Streit eskaliert, und Kevin hatte einen Schuss ins Gesicht abbekommen, an dem er beinahe gestorben wäre. Francis hatte ihn nicht ins Krankenhaus bringen können, weil er dort höchstwahrscheinlich verhaftet worden wäre. Danach hatte er den Jungen bei einer Ersatzfamilie wohnen lassen, einer alten Dame und ihrem Enkel. Er behielt Kevin genau im Auge und besuchte ihn so oft er konnte, aber er ließ ihm seine Freiheit, weil jedes Kind seine Freiheit brauchte.
    Klar war, dass Kevin nicht wie Francis aufwachsen würde. Er würde ein richtiges Leben führen, ohne Waffen, Drogen und die Ambulanz, die einen irgendwann zu einem Behandlungstisch bringen würde, auf dem man ein Etikett an den Zeh geknotet bekam. Wer sich zu lange in Francis' Nähe aufhielt, wer sein Leben hautnah miterlebte, musste zwangsläufig in Versuchung geraten, auch einmal den Zeh ins Wasser zu stecken, vor allem als junger Mensch. Und wer das einmal getan hatte, kam für den Rest seines Lebens nicht mehr heraus, weil dieser verlockende Teich ein gieriges Schlammloch war, in dem es vor Wassermokassinschlangen wimmelte, die behaupteten, dein Freund zu sein, bis man ihnen den Rücken zukehrte und eine der Schlangen einem ihre Giftzähne ins Genick schlug. Das sollte nicht mit Kevin geschehen, hatte sich Francis geschworen, als der Junge auf die Welt gekommen war. Aber vielleicht war es jetzt trotzdem geschehen. Es wäre wahrlich eine Ironie,

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