Der Abgrund
geschnappt, ihm den Zettel in die Hand gedrückt und ihn dann zu den anderen geschickt hatte.
»Ich habe ihm nichts gesagt, weil ich ihm nichts zu sagen hatte.« Kevins Tonfall war trotziger, als er beabsichtigt hatte, aber der Mann hatte ihm dieselben Fragen schon einmal gestellt, und er hatte es satt, ihm immer wieder dieselben Antworten geben zu müssen.
»Denk nach«, sagte der Mann ruhig. »Er ist ein ausgebildeter Ermittler, er hat deinen Worten vielleicht etwas entnommen, auch wenn du den Eindruck hattest, sie wären ohne besondere Bedeutung. Du bist doch ein kluger Junge, du wirst dich bestimmt an alles erinnern.«
Kevin hielt den Kohlestift in der Hand und drückte zu, bis seine Gelenke knackten. »Ich bin in die Straße gegangen. Ich habe alles getan, was Sie mir gesagt haben. Nicht mehr und nicht weniger. Aber Sie haben gesagt, er würde sich nicht mehr bewegen. Dass es ein einziges Blutbad sein würde. Aber so war es nicht. Er hat mir einen riesigen Schrecken eingejagt. In diesem Punkt haben Sie sich geirrt.«
Kevin zuckte zusammen, als der Mann seinen Arm ausstreckte, aber er legte ihm nur sanft eine Hand auf die Schulter. »Wir haben dir nicht gesagt, dass du zu diesem Hof gehen sollst, oder? Wir haben dir nur gesagt, dass du dich nicht von der Stelle rühren und warten sollst, bis wir dich holen. Siehst du? Unser Timing war perfekt.« Der Mann lachte. »Du hast uns wirklich ganz schön auf Trab gehalten, Junge.«
Kevin spürte, wie der Griff an seiner Schulter fester wurde, und obwohl der Mann lachte, wusste er genau, dass er verärgert war. Also wechselte er das Thema. »Warum hatten Sie den anderen Jungen dabei?«
»Nur, damit er auch etwas zu tun hat, genauso wie du. Er hat sich ein paar Dollar verdient, genauso wie du. Eigentlich solltest du ihn gar nicht zu Gesicht bekommen, aber dann mussten wir unsere Pläne ändern, weil du nicht mehr da warst, wo du eigentlich sein solltest. Die Sache wurde ziemlich brenzlig.« Die Hand griff noch etwas fester zu.
»Also haben Sie ihn schon freigelassen?«
»Kümmere dich nicht um diesen Jungen, Kevin. Sag mir, was du getan hast und warum das so gelaufen ist.«
Wie sollte Kevin es ihm erklären? Er hatte keine Ahnung gehabt, was geschehen würde, als er getan hatte, was man ihm gesagt hatte. Dann hatten die Maschinengewehre gefeuert, und er hatte große Angst gehabt, aber gleichzeitig war auch seine Neugier geweckt worden. Es war genau diese Mischung aus Angst und Neugier gewesen, die ihn getrieben hatte, nachzusehen. Als würde man zum Beispiel einen Stein von einer Brücke auf einen Highway fallen lassen, nur um zu sehen, ob man dadurch ein paar Autofahrer erschreckte oder ob man einen Unfall auslöste, bei dem sich fünf Fahrzeuge ineinander verkeilten. Also war Kevin nicht davongelaufen, sondern hatte sich näher herangewagt, weil er wissen wollte, was er bewirkt hatte. Auch die Waffen hatten ihn nicht etwa abgeschreckt, sondern eher angelockt. Es war wie mit einer Leiche, die gleichzeitig etwas Furchteinflößendes und Verlockendes hatte. »Und dann hat mich der Mann angeschrien«, sagte er nun zu seinem Entführer. Mensch, dabei hätte er sich fast in die Hosen gemacht! Als er sich plötzlich von all den Toten erhoben hatte, als er ihn angebrüllt und sogar gewarnt hatte, dass er nicht näher kommen sollte!
Kevin beobachtete den Mann, nachdem er ihm alles erzählt hatte. Er hatte für sie getan, was sie ihm gesagt hatten, und zwar aus dem ältesten Grund der Welt: Geld. Genug Geld, um seiner Oma und Jerome zu helfen, in ein netteres Haus zu ziehen. Es war so viel Geld, dass Kevin glaubte, er könnte einmal anderen helfen, statt immer nur auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Seine Oma und Jerome hatten ihn vor solchen Angeboten gewarnt, wenn Leute durch die Gegend streiften und einem schnelles Geld versprachen, wenn man Dinge tat, die man nicht tun sollte. Viele von Kevins Freunden hatten sich auf solche Angebote eingelassen und waren nun tot, verkrüppelt, im Gefängnis oder hatten jede Hoffnung verloren. Und nun gehörte auch er zu diesem armseligen Haufen, obwohl er erst zehn Jahre alt war.
»Und dann hast du gehört, wie die anderen dir entgegenkamen«, drängte der Mann behutsam.
Kevin nickte und dachte wieder an diesen Moment. Er hatte schreckliche Angst gehabt. Auf der einen Seite MGs, auf der anderen Männer mit Waffen, die ihm seinen einzigen Fluchtweg abschnitten. Er hätte nur über den Hof entkommen können. Zumindest
Weitere Kostenlose Bücher