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Der Abgrund

Titel: Der Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baldacci
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erschöpft. Vor dreißig Jahren war es ein ländliches Viertel gewesen, doch nun lag es mitten in der besten Vorstadtzone, im ständig weiter wuchernden Stadtgebiet, wo die Pendler um vier Uhr morgens aufstanden, um ihren Bürojob um acht beginnen zu können. Wahrscheinlich würde ein Bauunternehmer in fünf Jahren oder so sämtliche heruntergekommenen Immobilien aufkaufen, die ganze Gegend planieren und auf dem freien Feld neue, viel kostspieligere Häuser errichten.
    Web stieg aus dem Wagen und blickte sich um. Charlotte London hatte zu den älteren Anwohnern gehört, und trotz Webs Bemühungen war ihr Haus genauso baufällig wie die anderen. Der Zaun rostete vor sich hin und stand kurz vor dem Auseinanderfallen. Auf dem Vordach aus Metall hatte sich zu viel Wasser und Schmutz gesammelt, als dass sich eine erneute Reinigung gelohnt hätte. Der einsame Ahorn vor dem Haus war tot. Seine braunen Blätter aus dem vergangenen Jahr raschelten in der leichten Brise ein trauriges Lied. Das Gras war in die Höhe geschossen, weil Web keine Zeit gefunden hatte, den Rasenmäher anzuwerfen. Jahrelang hatte er sich redlich bemüht, alles in Ordnung zu halten, doch irgendwann hatte er es aufgegeben, weil seine Mutter sehr wenig Interesse gezeigt hatte, sich um das Haus und das Grundstück zu kümmern. Nachdem sie tot war, würde Web es vermutlich irgendwann verkaufen. Aber damit wollte er sich jetzt noch nicht auseinander setzen. Vielleicht würde er sich niemals dazu durchringen.
    Web ging hinein. Das letzte Mal war er unmittelbar nach ihrem Tod hier gewesen. Damals hatte eine große Unordnung geherrscht. Alles war noch so gewesen, wie seine Mutter es hinterlassen hatte. Er hatte einen ganzen Tag damit zugebracht, im Haus aufzuräumen, und schließlich hatten sich zehn HundertLiter-Säcke mit Müll auf dem Bürgersteig angesammelt. Dann hatte er dafür gesorgt, dass das Haus weiterhin Strom, Wasser und Kanalisation hatte. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, dass er jemals hier leben würde, aber er wollte es auch nicht aufgeben. Nun sah er sich in den Zimmern um, die bis auf den unvermeidlichen Staub und ein paar Spinnweben sauber waren. Er setzte sich, sah auf die Uhr und schaltete den Fernseher ein. Soeben wurde eine Soap-Opera wegen einer Nachrichtensondersendung unterbrochen. Es war die angekündigte FBI-Pressekonferenz. Web beugte sich vor und stellte Bild und Ton ein.
    Er verfolgte gespannt, wie Percy Bates an das Rednerpult trat. Wo zum Teufel war Buck Winters? Er hörte zu, wie Bates Webs vorbildliche FBI-Karriere schilderte, dann wurden einige bewegende Szenen gezeigt, wie Web verschiedene Auszeichnungen, Orden und Belobigungen entgegennahm, von Leitern der Bundespolizei und eine sogar vom Präsidenten höchstpersönlich. Bates sprach über den Horror im Hinterhof und Webs Tapferkeit angesichts einer derart überwältigenden feindlichen Übermacht.
    Ein Bild zeigte Web im Krankenhaus, während eine Hälfte seines Gesichts bandagiert war. Unwillkürlich berührte Web seine alte Verletzung. Dabei empfand er gleichzeitig Stolz und Peinlichkeit. Plötzlich wünschte er sich, Bates hätte auf diese Aktion verzichtet. Diese »Promotion« würde niemanden dazu veranlassen, seine Meinung zu ändern. Das Ganze wirkte einfach nur wie ein Rückzugsgefecht. Die Journalisten würden ihn in der Luft zerreißen und dem FBI wahrscheinlich vorwerfen, dass es sein Ansehen zu retten versuchte, indem es einen Mitarbeiter in Schutz nahm. Und in gewisser Weise war es vielleicht sogar so. Web stöhnte laut auf. Er hatte nicht geglaubt, dass es noch schlimmer kommen könnte, aber genau dieser Fall war jetzt eingetreten.
    Er schaltete den Fernseher aus, schloss die Augen und saß reglos da. Er hatte das Gefühl, eine Hand auf seiner Schulter zu spüren, aber hier war niemand außer ihm. Das würde ihm wahrscheinlich jedes Mal passieren, wenn er in das Haus kam.
    Er konnte die Anwesenheit seiner Mutter immer noch spüren. Charlotte London hatte bis zu ihrem Tod schulterlanges Haar getragen, das sich im Laufe der Jahre von einem herrlichen, betörenden Blond in ein elegantes, prächtiges Silber verwandelt hatte. Sie hatte keine Falten gehabt, weil sie eine Sonnenallergie hatte und ihr ganzes Leben lang ihre Haut vor zu viel Licht geschützt hatte. Ihr Hals mit den straffen Muskeln war lang und glatt gewesen. Web fragte sich, wie viele Männer sich von diesen zarten und zugleich überwältigenden Formen hatten verführen lassen. Als Jugendlicher

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