Der Abgrund
hatte er es gedacht. Doch der Mann hatte ihn davon abgehalten, und damit hatte er ihm das Leben gerettet. Er kannte ihn gar nicht, und doch hatte er ihm geholfen. Das war eine ganz neue Erfahrung für Kevin.
»Wie war noch mal der Name dieses Mannes?«, fragte er.
»Web London«, sagte der Mann. »Der, mit dem du geredet hast. Er ist der Einzige, der mich wirklich interessiert.«
»Ich habe ihm gesagt, ich hätte nichts getan«, wiederholte Kevin die Antwort, die er schon mehrmals gegeben hatte, in der Hoffnung, dass man ihn dann in Ruhe ließ und er weiterzeichnen konnte.
»Er sagte zu mir, wenn ich auf den Hof gehe, würde ich auch erschossen werden. Er zeigte mir seine Hand, die einen Treffer abbekommen hatte. Als ich in die andere Richtung weglaufen wollte, sagte er, dass man auch da auf mich schießen würde. Dann gab er mir seine Mütze und den Zettel. Er feuerte die Leuchtpistole ab und sagte mir, ich sollte losgehen. Und das habe ich gemacht.«
»Gut, dass ein anderer Junge bereitstand, um deinen Platz zu übernehmen. Du hast eine Menge durchgemacht.«
Irgendwie glaubte Kevin nicht, dass die Sache auch für den anderen Jungen gut ausgegangen war.
»Und London ist tatsächlich zurück auf den Hof gegangen?«
Kevin nickte. »Ich habe mich einmal zu ihm umgesehen. Er hatte dieses Riesengewehr. Er ging auf den Hof, und dann hörte ich, wie er damit schoss. Ich bin schnell weitergelaufen.« Ja, er war schnell gelaufen. Er war nicht gerannt, aber schnell gelaufen, bis ein paar Männer aus einem Eingang kamen und ihn geschnappt hatten. Kevin hatte den anderen Jungen ganz kurz gesehen. Er war ungefähr so groß und so alt wie er gewesen, aber Kevin war ihm noch nie zuvor begegnet. Er schien genauso viel Angst wie Kevin zu haben. Einer der Männer hatte schnell gelesen, was auf dem Zettel stand, und Kevin gefragt, was geschehen war. Dann hatten sie dem anderen Jungen die Mütze und die Nachricht gegeben und ihn losgeschickt, damit er die Sachen anstelle von Kevin ablieferte.
»Warum hatten Sie den anderen Jungen dabei?«, fragte Kevin erneut, aber der andere Mann gab ihm keine Antwort. »Warum haben Sie ihn mit der Nachricht losgeschickt und nicht mich?«
Auch diese Frage ignorierte der Mann. »Wirkte London auf dich irgendwie von der Rolle? Als ob er nicht mehr klar denken könnte?«
»Er hat mir gesagt, was ich tun soll. Er schien noch ziemlich klar denken zu können, würde ich sagen.«
Der Mann atmete tief durch und schüttelte den Kopf. Dann lächelte er Kevin an. »Du wirst wohl nie begreifen, wie außergewöhnlich das war, Kevin. Web London muss wirklich ein ganz besonderer Mann sein, wenn er so etwas getan hat.«
»Sie werden mir nicht sagen, was alles eigentlich passieren sollte.«
Der Mann lächelte immer noch. »Nein. Weil du es gar nicht wissen musst, Kevin.«
»Wo ist der andere Junge? Warum hatten Sie ihn dabei?«, bohrte er noch einmal nach.
»Wenn man alle Eventualitäten berücksichtigt, erreicht man meistens das, was man sich vornimmt.«
»Ist der Junge jetzt tot?«
Der Mann stand auf. »Lass es uns wissen, wenn du noch irgendetwas brauchst. Wir werden versuchen, uns so gut wie möglich um dich zu kümmern.«
Kevin beschloss, seinerseits eine Drohung auszusprechen. »Mein Bruder dürfte schon nach mir suchen.« Er hatte es bisher noch nicht gesagt, aber er hatte ständig daran gedacht, jede Minute. Jeder kannte Kevins Bruder. Und fast jeder hatte Angst vor seinem Bruder. Kevin hoffte, dass auch dieser Mann Angst vor Francis hatte. Doch dann verlor Kevin den Mut, als er am Gesicht des Mannes erkannte, dass er offenbar keine Angst vor ihm hatte. Vielleicht hatte er vor gar nichts Angst.
»Ruh dich einfach aus, Kevin.« Der Mann betrachtete ein paar seiner Zeichnungen. »Weißt du, du hast sehr viel Talent. Möglicherweise wärst du gar nicht wie dein Bruder geworden.« Der Mann ging und verriegelte wieder die Tür.
Kevin versuchte es zu unterdrücken, aber ihm liefen plötzlich Tränen über die Wangen und tropften auf die Decke. Er wischte sie ab, aber es kamen immer mehr. Kevin verkroch sich in eine Ecke und weinte so heftig, dass er immer wieder nach Luft schnappen musste. Dann zog er sich eine Decke über den Kopf und saß reglos im Dunkeln da.
KAPITEL 19
Web fuhr mit dem Crown Vic die Straße entlang, an der seine Mutter früher gewohnt hatte. Diese Gegend lag in den letzten Zügen, ihr Potenzial war niemals genutzt worden, ihre Lebensfähigkeit hatte sich längst
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