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Der Abgrund

Titel: Der Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baldacci
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hatte Web häufig von seiner jungen Mutter geträumt, wofür er sich bis heute schämte.
    Obwohl sie getrunken und sich keineswegs gesund ernährt hatte, hatte seine Mutter in vierzig Jahren kein Gramm zugenommen, und ihr Gewicht hatte im Großen und Ganzen die ursprüngliche Verteilung beibehalten. Es war eine Tragödie, dass ihre Leber zum Schluss nicht mehr mitgemacht hatte. Mit dem Rest ihres Körpers hätte sie noch etliche Jahre weiterleben können.
    Trotz ihrer Schönheit war es in erster Linie ihr Intellekt gewesen, von dem sich die meisten Leute angezogen gefühlt hatten. Die Gespräche zwischen Mutter und Sohn waren dagegen recht bizarr gewesen. Sie hatte nie ferngesehen. »Nicht umsonst heißt es, dass Fernsehen verblödet«, hatte sie häufig gesagt. »Ich lese lieber Camus. Oder Goethe. Oder Jean Genet. Über Genet muss ich gleichzeitig lachen und weinen, und ich kann nicht einmal erklären, warum, denn Genet hat im Grunde überhaupt nichts Komisches geschrieben. Seine Themen waren eher abscheulich. Verderbt. So viel Leid. Hauptsächlich autobiografisch.«
    »Richtig, völlig klar, Genet, Goethe«, hatte Web ihr vor mehreren Jahren erwidert. »G-Men, genauso wie ich.« Seine Mutter hatte diesen Witz nie kapiert.
    »Aber sie können auf wunderbare Weise bezwingend sein, sogar erotisch«, hatte sie gesagt.
    »Wer?«, hatte er gefragt.
    »Die Abscheulichkeit und Verderbtheit.«
    Web hatte tief durchgeatmet. Er hätte ihr am liebsten gesagt, dass er schon mehrere Beispiele der Abscheulichkeit und Verderbtheit gesehen hatte, bei denen dem guten alten Jean Genet das Kotzen gekommen wäre. Er hatte ihr unmissverständlich klar machen wollen, dass man keine Witze über diese üblen Dinge machen sollte, weil eines Tages jemand, der vor Abscheulichkeit und Verderbtheit strotzte, in ihr Haus treten und ihr Leben auf gewalttätige Weise beenden könnte. Aber er hatte geschwiegen. Seine Mutter hatte ihn häufig sprachlos gemacht.
    Charlotte London war mit vierzehn Jahren ans College gekommen und hatte in Amherst einen Abschluss in amerikanischer Literatur gemacht, als eine der Besten ihres Jahrgangs. Sie hatte vier Fremdsprachen beherrscht. Nach dem College war Charlotte fast ein Jahr lang um die Welt gereist. Web wusste es, weil er die Fotos aus dieser Zeit gesehen und ihre Tagebücher gelesen hatte. Und es war zu einer Zeit gewesen, als junge Frauen so etwas noch nicht getan hatten. Sie hatte sogar ein Buch über ihre Erlebnisse geschrieben; es trug den Titel London Times. London war ihr Mädchenname gewesen, den sie nach dem Tod ihres zweiten Mannes wieder angenommen hatte. Webs damaligen Nachnamen Sullivan hatte sie offiziell ändern lassen, nachdem sie von ihrem ersten  Ehemann geschieden war. Den Namen seines Stiefvaters hatte Web nie getragen. Das hätte seine Mutter auf gar keinen Fall gestattet. So war sie gewesen.
    In jungen Jahren hatte Web von ihr sehr viel über ihre Reisen erfahren, und er hatte ihre Berichte für die wunderbarsten Geschichten gehalten, die er jemals gehört hatte. Und er hatte mit ihr auf Reisen gehen wollen, um darüber ein eigenes Tagebuch zu schreiben und seine wunderschöne, abenteuerlustige Mutter zu fotografieren, vor dem Hintergrund eines türkisfarbenen Sees in Italien oder einem schneebedeckten Berg in der Schweiz oder einem Straßencafe in Paris. Die wunderschöne Mutter und der gut aussehende Sohn, die die Welt im Sturm eroberten, hatten die Gedanken seiner Kindheit beherrscht. Doch dann hatte sie Webs Stiefvater geheiratet, und damit hatten sich diese Träume verflüchtigt.
    Web öffnete die Augen und stand auf. Zuerst ging er in den Keller. Jede Oberfläche war von dickem Staub bedeckt, und Web fand nicht einmal ansatzweise, wonach er suchte. Er ging wieder hinauf und in den hinteren Bereich des Hauses, wo sich die Küche befand. Er öffnete die Hintertür und blickte auf die kleine Garage hinaus, in der neben anderen Sachen der uralte Plymouth Duster seiner Mutter stand. Er hörte das Geschrei von Kindern, die irgendwo in der Nähe spielten. Er schloss die Augen, legte das Gesicht ans Fliegengitter und ließ dieses Geräusch auf sich einwirken. Vor seinem inneren Auge sah er, wie sie den Football warfen, wie die schlaksigen Beine losrannten, wie ein sehr junger Web glaubte, dass sein Leben vorbei wäre, wenn er diesen Ball nicht fangen würde. Er atmete die Luft ein und roch den Holzrauch, der mit dem süßen Duft von frisch gemähtem Gras vermischt war. Es schien, dass

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