Der Abgrund
ablegte und wegging. Während er wartete, zitterte Web wieder, weil er nicht die leiseste Ahnung hatte, was er zu dieser Frau sagen sollte. Er wurde immer nervöser, als er hörte, wie Schritte näher kamen. Dann nahm jemand das Telefon auf, sagte aber kein Wort.
»Julie?«, fragte er schließlich.
»Was willst du, Web?« Ihre Stimme klang erschöpft. Seltsamerweise machte Web ihre müde Stimme mehr zu schaffen als ihr wütendes Geschrei in der Kirche.
»Ich wollte nur fragen, ob ich irgendetwas tun kann, um dir zu helfen.«
»Es gibt nichts, was du oder sonst wer tun könnte.«
»Du solltest jetzt nicht allein sein. Das wäre nicht gut für dich.«
»Meine Schwester und meine Mutter sind aus Newark rübergekommen.«
Web atmete erleichtert durch. Das war zumindest etwas Gutes. Julie klang einigermaßen ruhig und vernünftig. »Wir werden herausfinden, wer das getan hat, Julie. Und wenn ich den Rest meines Lebens damit verbringen muss. Das wollte ich dir unbedingt sagen. Lou und die anderen haben mir mehr als alles andere bedeutet.«
»Tu, was du tun musst, aber damit kannst du sie nicht zurückbringen, Web.«
»Hast du die Pressekonferenz im Fernsehen verfolgt?«
»Nein. Und ruf bitte nicht mehr an.« Sie legte auf.
Web saß eine Weile reglos da und versuchte alles zu verarbeiten. Er hatte gar nicht damit gerechnet, dass sie sich für die Ohrfeige entschuldigen würde, die sie ihm neulich verpasst hatte. Was Web Sorgen machte, war die Art und Weise, wie sie ihn abgefertigt hatte. Ruf bitte nicht mehr an? Vielleicht empfanden es die anderen Frauen genauso. Nicht einmal Debbie oder Cynde hatten Kontakt zu ihm aufgenommen und ihn gefragt, wie es ihm ging. Andererseits war ihr Verlust viel größer als seiner. Sie hatten ihre Ehemänner verloren, er nur seine Freunde. Das war vermutlich ein gewaltiger Unterschied. Nur dass seine Freunde für ihn alles gewesen waren, was er gehabt hatte.
Er ging zum 7-Eleven auf der anderen Straßenseite und holte sich einen Kaffee. Es hatte zu nieseln begonnen, und die Temperatur war gefallen. Zu Anfang hatte es nach einem schönen Tag ausgesehen, aber jetzt war er grau und nass geworden, wie er so typisch für diese Gegend war. Und er passte hervorragend zu seiner selbstmörderischen Stimmung.
Web kehrte in sein Zimmer zurück, setzte sich auf den Boden und öffnete die Pappschachtel. Die Papiere waren moderig geworden, hatten teilweise sogar Schimmel angesetzt, und die wenigen Fotos waren eingerissen und vergilbt. Trotzdem war er davon fasziniert, weil er diese Sachen noch nie zuvor gesehen hatte. Hauptsächlich, weil er nie gewusst hatte, dass seine Mutter diese Dokumente aus der Zeit ihrer ersten Ehe aufbewahrt hatte. Und weil er nie zuvor auf die Idee gekommen war, im Haus danach zu suchen. Warum er es nicht getan hatte, wusste er selbst nicht genau. Vielleicht hatte die Beziehung zu seinem Stiefvater jedes Interesse erstickt, das Web vielleicht einmal für Väter aufgebracht hatte.
Er breitete die Fotos fächerförmig auf dem Boden aus und betrachtete sie. Sein Vater, Harry Sullivan, war ein gut aussehender Mann gewesen. Sehr groß und breitschultrig. Er hatte gewelltes schwarzes Haar gehabt, dass er als pomadisierte Pompadourfrisur trug. Mit selbstbewusstem Blick starrte er in die Kamera. Er sah aus wie ein Filmstar aus den Vierzigern, jung und energisch, mit einem durchtriebenen Glitzern in den Augen. Web konnte nachvollziehen, dass Harry Sullivan sehr attraktiv auf eine junge Frau wirken mochte, die trotz ihrer Intelligenz und ihrer Weltreisen eine gewisse Naivität behalten hatte. Er fragte sich, wie sein Vater wohl heutzutage aussehen mochte, nach vielen Jahren im Gefängnis, nach Jahrzehnten eines schnellen Lebens, das ins Nichts geführt hatte.
Auf einem anderen Foto hatte Sullivan einen Arm um Charlottes zierliche Taille gelegt. Der Arm war so lang, dass er fast völlig um ihren Körper herumreichte. Die Finger lagen genau unter ihren Brüsten, und vielleicht berührte er sie sogar. Sie sahen sehr glücklich aus. Mit ihrem Faltenrock und der flotten Frisur wirkte Charlotte London sogar viel hübscher, bezaubernder und lebensfreudiger, als Web sie jemals erlebt hatte. Doch das war vermutlich ihrer Jugend zuzuschreiben. Die harten Zeiten lagen für die beiden noch in ferner Zukunft. Web berührte seine Wange. Nein, harte Zeiten waren nichts Erstrebenswertes, und sie machten einen auch nicht unbedingt stärker. Web fiel es schwer zu glauben, dass diese Frau tot
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