Der Abgrund
ihn beraten, stimmt's?«
Sie runzelte nur die Stirn, ohne seine Frage zu beantworten. Aber sie stand auf und folgte ihm in den Empfangsbereich, wo es einen kleinen Fernseher gab. Mehrere der Psychiater und Psychologen, die hier ihre Büros hatten, einschließlich Ed O'Bannon, hatten sich bereits vor dem Bildschirm versammelt. Es war Mittag, und keiner schien zurzeit einen Patienten zu haben. Mehrere hielten Teile ihrer Mahlzeiten in den Händen.
In den nächsten zehn Minuten erhielt Claire Daniels einen erheblich tieferen Einblick in das Leben und die berufliche Laufbahn von Web London. Sie bemerkte, dass sie unwillkürlich eine Hand vor den Mund legte, als sie sah, wie Web im Krankenhaus lag und große Teile seines Gesichts und seines Oberkörpers bandagiert waren. Dieser Mann hatte sehr viel durchgemacht mehr, als ein Mensch durchmachen sollte. Und Claire verspürte das intensive Bedürfnis, ihm zu helfen, ungeachtet der dramatischen Art und Weise, wie er ihre Sitzung beendet hatte. Als die Pressekonferenz vorbei war und die Leute allmählich in ihre Büros zurückkehrten, fing sie O'Bannon ab.
»Ed, du erinnerst dich, wie ich dir erzählt habe, dass Web London bei mir war, als du nicht da warst?«
»Sicher, Claire. Ich bin dir sogar dankbar, dass du mit ihm geredet hast.« Er senkte die Stimme. »Im Gegensatz zu einigen anderen Kollegen kann ich dir vertrauen, dass du mir nicht meine Patienten stiehlst.«
»Dafür bin ich dir sehr dankbar, Ed. Aber um die Wahrheit zu sagen, ich habe großes Interesse an Web. Und wir haben uns bei dieser Sitzung sehr gut verstanden.« Dann fügte sie mit fester Stimme hinzu: »Ich würde seine Behandlung gern übernehmen.«
O'Bannon sah sie verdutzt an, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Claire. London war schon häufiger bei mir, und er ist eine ziemlich harte N USS. Wir sind nie richtig damit fertig geworden, aber er scheint ein ernsthaftes Mutter-Sohn-Problem zu haben.«
»Dessen bin ich mir bewusst, aber ich würde wirklich gern an seinem Fall arbeiten.«
»Dafür bin ich dir sehr dankbar, aber er ist mein Patient. Und wir sollten nicht das Prinzip der kontinuierlichen Therapie vergessen. Also sollte er wenigstens beim gleichen Arzt bleiben.«
Claire holte tief Luft. »Könnten wir das Web entscheiden lassen?«
»Wie bitte?«
»Könntest du Web anrufen und ihn fragen, von wem er sich lieber behandeln lassen würde?«
O'Bannon warf ihr einen sehr verärgerten Blick zu. »Ich glaube kaum, dass das notwendig sein dürfte.«
»Ich glaube, wir haben auf Anhieb die gleiche Wellenlänge gefunden, Ed. In seinem Fall könnte eine zweite therapeutische Perspektive durchaus sinnvoll sein.«
»Es gefällt mir nicht, was du damit anzudeuten scheinst, Claire. Falls du es noch nicht wusstest, ich habe in Vietnam gedient, wo ich mit unterschiedlichsten Fällen von Kriegsneurosen oder Gefangenen, die einer Hirnwäsche unterzogen wurden, zu tun hatte. Und ich war dabei sehr erfolgreich.«
»Web ist nicht beim Militär.«
»Die Geiselrettung ist so militärisch, wie eine zivile Einrichtung sein kann. Ich kenne diese Männer und spreche ihre Sprache. Ich glaube, meine Erfahrung ist eine einzigartige Voraussetzung für diesen Fall.«
»Ich will auch gar nichts Gegenteiliges behaupten. Aber Web hat mir gesagt, dass er sich bei dir nicht in jeder Beziehung wohl fühlt. Und ich weiß, dass auch du der Meinung bist, dass die Interessen des Patienten an erster Stelle stehen sollten.«
»Es ist überflüssig, mir Vorträge über professionelle Ethik zu halten.« Dann hielt er einen Moment inne. »Er hat gesagt... dass er sich bei mir nicht in jeder Beziehung wohl fühlt?«
»Ja, aber ich glaube, das hat in erster Linie mit der Tatsache zu tun, dass er eine harte N USS ist, wie du sagtest. Ich weiß nicht, vielleicht mag er mich auch nicht mehr, wenn wir die Behandlung fortsetzen.« Sie legte O'Bannon eine Hand auf die Schulter. »Rufst du ihn an? Heute noch?«
»Ich werde ihn anrufen«, sagte O'Bannon mürrisch.
Web war mit seinem Wagen unterwegs, als sein Handy klingelte. Er warf einen Blick auf das Display. Es war eine Nummer aus Virginia, die ihm unbekannt war.
»Hallo?«, antwortete er vorsichtig.
»Web?«
Die Stimme klang vertraut, aber der Groschen wollte nicht fallen.
»Dr. Bannon hier.«
Web blinzelte. »Woher haben Sie diese Nummer?«
»Sie haben sie mir gegeben. Während unserer letzten Sitzung.«
»Hören Sie, ich habe mir überlegt...«
»Web, ich habe mit
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